Erdbeerkönigin
altmodischen Badehosen à la Turnvater Jahn bei verrückten, akrobatischen Verrenkungen vor dem Sonnenuntergang am Meer. Ich krame weiter und finde Postkarten aus Paris, Tokio, Moskau, New York – alle offensichtlich seit langem verwahrt. Daniel war sentimentaler, als ich dachte. »Oder unordentlicher«, ergänzt die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf.
Auf dem Boden der Schublade entdecke ich einen zerknitterten Umschlag mit derselben nervösen Schrift wie auf dem Post-it im Kleiderschrank: Daniels Handschrift. Auf dem Briefumschlag steht – mein Name und die Adresse meiner Mutter, meines Elternhauses! Mein Herz schlägt schneller und mein Mund wird trocken. Also hat Daniel mir doch geantwortet! Zumindest hat er daran gedacht – und den Brief nicht abgeschickt. Warum nur? Mit zitternden Händen untersuche ich den Umschlag. Er enthält ein Konvolut aus verschiedenen Zetteln und Blättern. Die vergilbte Bleistiftzeichnung eines Mädchens am Fluss überrascht mich so freudig, dass sich mein Magen zusammenzieht: Der Fluss ist die Elbe – und das Mädchen bin ich. Ich kann mich sogar an den Moment erinnern, als Daniel mich zeichnete.
Aufgeregt blättere ich weiter: noch mehr Skizzen, viele zeigen mich. Motive, an die ich mich nicht erinnere. Vielleicht hat er mich nach dem Gedächtnis gezeichnet?
Endlich finde ich einen Brief. »Liebe Eva!« steht da. Das »liebe« ist durchgestrichen, stattdessen hat Daniel ein profanes »Hallo« darüber geschrieben. »Wie geht es Dir?« Ich drehe das Blatt um, aber sonst steht dort nichts. Ich starre ungläubig. Das ist alles? »Hallo Eva! Wie geht es Dir?« Noch nicht einmal ein Datum hat Daniel vermerkt. Ratlos blättere ich weiter. Es gibt nur noch ein einziges weiteres Blatt, auf dem etwas zu lesen steht. Hier hat sich Daniel nicht mit einer Höflichkeitsfloskel aufgehalten, sondern hat mit »Stell Dir vor, Eva« angefangen. Doch auch dieser Text bricht schon nach der zweiten Zeile ab. Ich entziffere: »Stell Dir vor, Eva, morgen ist es also so weit und ich werde an der Kunsthochschule aufgenommen. Das werde ich Dir ausführlich schreiben. Bin halt schreibfaul. Aber wenn es etwas zu erzählen gibt …« Sooft ich die Blätter auch durchgehe, ich finde nichts Schriftliches mehr.
Also hat Daniel fest damit gerechnet, an der Kunsthochschule angenommen zu werden. Er
wollte
Maler werden. Aber er ist abgelehnt worden. Stattdessen hat er Kunstgeschichte studiert, wie Hubertus erzählte. Er muss so sehr enttäuscht gewesen sein, dass er den Brief an mich nie mehr zu Ende geschrieben und abgeschickt hat.
Aber warum hat er ihn aufbewahrt? Die Blätter geben mir keine Antwort. Schließlich stecke ich die Zeichnungen und Briefentwürfe wieder in den Umschlag und stopfe alles zurück in die Schublade. Dann entschließe ich mich, noch ein wenig zu schlafen. Ich bin sehr müde.
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8 . Kapitel
Was verstehst Du unter einem »erfüllten Leben«?
(Gesprächsstoff: Original)
Montag, Tag 6
A m nächsten Nachmittag lockt mich das schöne Wetter nach draußen. Diesmal schlage ich eine andere Richtung ein, lasse die Einkaufsstraße und das gutbürgerliche Wohnviertel hinter mir und schlendere einen Fußweg am Kanal entlang. Nach einer halben Stunde stehe ich unvermittelt vor einer Backsteinkirche. Schon als Kind mochte ich alte Kirchen – ich bin immer mitgegangen, wenn wir auf Ausflügen oder in den Ferien eine Kirche besichtigten. Ich genieße den Geruch von Holz, Kerzen und etwas undefinierbar Altem. Mir gefallen Inschriften und Heiligenfiguren, Schnitzereien und Malereien – und die Ruhe, die in Kirchen herrscht.
Neugierig gehe ich um das Gebäude herum. Vielleicht ist es geöffnet? Neben der Holztür hängt ein Kasten, der mir verrät, dass die Kirche zum Verweilen, Atemholen oder zum stillen Gebet einlädt. Vorsichtig drücke ich die Metallklinke und öffne die schwere Holztür. Ich bin überrascht, wie hell der Raum ist, in den ich durch eine hinter dem Windfang liegende Glastür gelange. Die Bänke sind modern – helles glattes Holz, in die Sitzfläche ist wie eine Intarsie ein roter Stoff eingelassen. Es herrscht eine besondere Stille in dem hohen kühlen Gemäuer. Wie ein feines Summen, das kein Summen ist. Wie ein Atmen, das nicht von Menschen geatmet wird. Das rechte Seitenschiff ist zu einem Andachtsraum umgestaltet worden. Dort zünde ich hinter der Glastür eines der bereitstehenden Teelichter an und stelle es neben andere, bereits flackernde in einen
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