Erdbeerkönigin
interessanter zu machen. Das war so eine Macke von ihm.«
»Aber seine Salatsoßen waren ja tatsächlich sensationell«, sagte Tina. »Ich erinnere mich an einen Abend bei diesem netten Anwalt, Hubertus …«
Kurz nach Mitternacht waren wir die einzigen Gäste des Restaurants, und wenig später warf der Besitzer des Ladens der Kellnerin einen Schlüssel zu. »Jella, schließt du ab?« Die Freundinnen erzählten von Daniels Charme, von seinem Erfolg bei Frauen, von vergessenen Verabredungen und verschobenen Urlauben, von seinem Humor und seiner Selbstironie und davon, dass man ihn entweder mochte oder ablehnte. »Daniel war nicht jedermanns Liebling«, fasste Billie zusammen, und alle nickten. Die Uhr ging schon auf halb zwei, als ich endlich ein Taxi bestieg.
In der Wohnung angekommen, kuschelte ich mich zufrieden und müde auf Daniels Sofa und fühlte mich zu Hause. Leider war mir kein langer Schlaf beschieden.
Dennoch bin ich nicht böse, als ich mir jetzt etwas Wasser ins Gesicht spritze. Die Gespräche, das Lachen der Frauen, die Bilder von Daniel, die ihre Erzählungen heraufbeschworen haben, klingen in mir nach. Innerlich leiste ich Benny Abbitte. Warum meckere ich immer darüber, dass er so viel Zeit mit seinen Freunden verbringt? Die vergangenen Abende haben mir aufs Neue gezeigt, wie tröstlich es ist, mit anderen Menschen zusammen zu sein, zu reden, sich auszutauschen, zu lachen. Während ich hinüber in die Küche gehe, erinnere ich mich an eine Diskussion mit Alissa über unsere Vorstellung von Glück. Alissa sagte damals: »Glück ist für mich ein großer Tisch im Garten, an dem viele Menschen sitzen. Freunde, Familie, Bekannte, Nachbarn. Die Kinder laufen herum, und alle reden und lachen.«
Der Tisch in Hubertus’ Garten steht mir wieder vor Augen, der Tisch heute Nacht in dem gemütlichen italienischen Restaurant. Menschen um einen Tisch, im angeregten, zugewandten Gespräch, bei dem Trauer und Tränen ebenso Platz haben wie das gemeinsame Lachen. Ja, so kann Glück aussehen.
Nachdenklich gieße ich mir ein Glas Wasser ein. Zwei Mal innerhalb einer Woche ausgehen – das habe ich zuletzt während meiner Ausbildung gemacht, und als Erdbeerkönigin. Als ich Daniel kennenlernte, war ich ja gerade frisch gekürt worden und hatte wenig später als Lernschwester an der Medizinischen Hochschule in Hannover angefangen. In nur einigen Monaten hatte sich damals mein Leben verändert: Schule vorbei, Ausbildungsanfang, Erdbeerkönigin. Das Wichtigste in jener Zeit aber war, dass ich Nick kennenlernte – und Alissa. Anfangs übte ich mich im »Zwischenfahren«. Das heißt: Ich wohnte zu Hause, fuhr aber mit wechselnden Fahrgemeinschaften zur Arbeit nach Hannover. Woher der Ausdruck »Zwischenfahren« kommt, habe ich bis heute nicht ergründen können, obwohl er mir passend erschien: Ich war ständig »dazwischen«, hatte es zu weit oder war zu nahe dran. Dieser unerquickliche Zustand dauerte drei Monate, dann kam ich in einer WG unter und fuhr nur noch nach Hause, wenn mich die Pflichten als Erdbeerkönigin riefen – und das war meistens am Wochenende. Damals traf ich auf Alissa. Sie ist ein bisschen älter als ich, war in Moskau zur Schule gegangen, studierte Medizin und jobbte an der Klinik. Sie war eine passionierte Leserin und fiel mir gern mit Zitaten von ihrem Lieblingsdichter Tschechow auf die Nerven. Als in unserer WG ein Zimmer frei wurde, zog Alissa ein. Gemeinsam haben wir Nachtdienste durchgestanden, in Studentenkneipen herumgehangen und stundenlang über Gott, die Welt und über die Liebe diskutiert.
Der harte Kern unserer Clique bestand aus einer Handvoll Mädchen, die wie ich Krankenschwestern werden wollten oder Medizin studierten. Die Arbeit im Krankenhaus schweißt zusammen. Man kämpft nebeneinander, häufig in extremen Situationen, ist mit Tod, Krankheit, mit Schmerzen und Hässlichkeit konfrontiert. Mir erschien es damals schwer, Freunden, die nicht in dieser Umgebung zu Hause waren, von meiner Tätigkeit zu erzählen – denn die Angst anderer Menschen, ihre Nöte und Bedürfnisse waren ihnen fremd. Es ist viel schwerer, einen weinenden, todkranken Menschen, den man am Tag betreut hat, am Abend zu verlassen, als einen Computer auszuschalten und das Büro abzuschließen. Nur einer verstand das sofort: Nick.
Ich leere das Wasserglas und hole mir aus dem Wohnzimmer eine der flauschigen Decken. Die Nachtluft auf dem Küchenbalkon ist frisch und feucht, doch ich bin warm
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