Erdbeerkönigin
duldend, in Stanislaws Jackentasche. »Sie haben doch gerade einen Verdienstausfall.«
Das bringt Stanislaw dazu, sich nach seinem Akkordeonkasten umzusehen, der noch immer auf dem Platz liegt.
Ich hole ihn. Er sieht heil aus, und als wir ihn öffnen, stößt Stanislaw einen erleichterten Seufzer aus. Das Instrument liegt ohne sichtbaren Kratzer in dem mit blau schimmerndem Samt ausgeschlagenen Kasten. Stanislaw zeigt mir, wie man die Riemen so über die Schultern zieht, dass man ihn bequem auf dem Rücken tragen kann.
Frau Biermann teilt sich mit Stanislaw den Rollator, und so bewegen wir uns im Schneckentempo auf das Seniorenheim zu. Für mich allein wäre es ein Weg von knapp zehn Minuten gewesen, aber Frau Biermann und Stanislaw brauchen über eine halbe Stunde.
Umsichtig dirigiert uns Frau Biermann zu einem Nebeneingang und dort zu einem Fahrstuhl. Im zweiten Stock steigen wir aus. Glücklicherweise begegnen wir unterwegs niemandem. Frau Biermann schließt die Tür mit der Nummer 17 auf. Dahinter öffnet sich ein kleines, gemütliches Apartment. Vollgestopfte Bücherregale säumen die Wände. Überall stehen gerahmte Fotos, auf den Fensterbänken bunte Gläser und Vasen. Die Tür zu einem kleinen, begrünten Balkon ist geöffnet. Wir helfen Stanislaw aufs Bett, über das eine bunte Tagesdecke gebreitet ist. Er schließt dankbar die Augen.
Dem Bett gegenüber steht eine kleine Sitzgruppe um einen runden Tisch: ein Fernsehsessel, auf dem sich Frau Biermann niederlässt, und zwei weitere kleine Sessel.
Sie beugt sich vor und sagt: »Bitte, nehmen Sie auch Platz.« Ihr fällt noch etwas ein. »Und bringen Sie bitte den Cognac mit, der dort hinten im Regal über der Küchenzeile steht. Sie finden dort auch Gläser.«
Stanislaw öffnet die Augen.
Frau Biermann lächelt. »Sie bekommen auch ein Glas. Ärztliche Anweisung!«
Und so prosten wir drei uns wenig später zu. Frau Biermann bringt einen Toast aus: »Darauf, dass alles glimpflich abgelaufen ist. Mit diesen Fixies hat es hier in der Gegend schon schreckliche Unfälle gegeben.«
Auch Stanislaw, der wieder bleich und mitgenommen in die Kissen gesunken ist, versucht sich an einem Trinkspruch: »Vielen Dank für meine Lebensretter!«
Ich wünsche mir, dass Alissa mich jetzt sehen könnte – oder dass sie auch dabei wäre, in diesem Seniorenheim mit einer uralten Ärztin und einem russischen Akkordeonisten beim Cognac. Alissa würde wunderbar hierherpassen. Sie ist viel offener als ich, und wieder wird mir schmerzhaft bewusst, dass ich sie sehr vermisse. Ich gestehe mir ein, dass ich unachtsam mit den Geschenken umgegangen bin, die mir das Leben gemacht hat: eine großartige, verständnisvolle Freundin, eine ungewöhnliche, liebevolle Mutter – und ein großartiger Mann. Ich habe so viel Besonderes im Alltäglichen übersehen, dass ich mich fast schäme. Ich kann nur hoffen, Mama hat gespürt, dass ich sie liebte, aber bei Nick und Alissa habe ich die Chance, meine Nachlässigkeit wiedergutzumachen. Ein ungewohntes Glücksgefühl durchströmt mich. Als wäre ich gerade aus der Dusche gestiegen, als ob es nicht früher Abend, sondern ein neuer Morgen wäre. Und so sage ich, als ich mein Glas hebe, etwas, das mich selbst erstaunt: »Auf dieses wunderbare, verrückte Leben!«
Frau Biermann und Stanislaw wiederholen: »Auf das Leben!«
Der Cognac brennt wie Feuer in meiner Kehle, aber er tut uns allen gut. Stanislaw leckt sich die Lippen, und langsam kehrt die Farbe in sein Gesicht zurück. Mit einer angedeuteten Verbeugung, bei der er sein Gesicht schmerzlich verzieht, sagt er leise: »Mein Name ist Stanislaw Fjodor Baschlakov. Freunde sagen mir Stani.«
Wir lächeln einander zu. Ich antworte: »Eva Brandt.«
Frau Biermann schenkt Cognac nach. Sie hebt wieder ihr Glas und sagt: »Die meisten nennen mich Dr. Lenchen.«
Dr. Lenchen, Stani und ich leeren die Cognacflasche beinahe. Das heißt, Dr. Lenchen und ich sind dabei die Hauptbeteiligten – denn Stani nickt bald ein. Er schließt die Augen, und sein Gesicht sieht gleich viel jünger und weicher aus. Dr. Lenchen zupft ihm fürsorglich die Decke bis über die Schulter. Wie ziehen den Tisch und die Sessel vom Bett fort vor die Balkontür, um den Schläfer mit unserem Gespräch nicht zu stören. Das geht erstaunlich leicht und geräuschlos vor sich, denn alle Sitzmöbel haben Rollen unter den Beinen. »Ohne die Rollen könnte ich allein doch gar nichts umstellen«, verrät Dr. Lenchen
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