Erdbeerkönigin
übernehmen?«
Ein junger Mann zückt sein Handy.
Doch Stanislaw hebt den Arm und bewegt abwehrend die linke Hand. »Kein Krankenwagen! Kein Arzt.«
Ich starre ihn verständnislos an. »Was?«
Er stöhnt leise: »Nix Arzt. Nix Geld. Nix Versicherung.«
Er sieht so panisch aus, dass ich dem jungen Mann ein Zeichen gebe und sage: »Vielen Dank! Wir kriegen das doch allein hin. Ich bin Krankenschwester.« Ich frage Stanislaw: »Wie fühlen Sie sich?«
Stanislaw schließt die Augen und schweigt. Ich betrachte ihn besorgt und ein wenig ratlos. Was soll ich mit dem Mann machen, wenn er sich weigert, ärztliche Hilfe anzunehmen?
Ein Schatten fällt auf mich. Neben mir taucht eine Gehhilfe auf, die Bremse wird mit einem entschiedenen Klicken justiert. Dann kniet sich eine alte Dame ächzend auf den Boden. Sie greift nach Stanislaws Hand und kommandiert selbstsicher und bestimmt: »Hallo! Machen Sie mal die Augen auf.« Als Stanislaw sie unsicher anblickt, fordert sie mich auf: »Schwester, helfen Sie mal. Wir müssen ihn in die stabile Seitenlage bringen.«
Ihre Worte lösen die Starre in mir. Meine Güte, Erste Hilfe ist doch mein tägliches Brot. Die Alte lächelt mich an. Über ihrer großen Nase blitzen zwei Augen, die viel zu lebendig und jung aussehen für ihr faltiges, verknittertes Gesicht. Knapp stellt sich unsere Helferin vor: »Helene Biermann, Ärztin für Allgemeinmedizin.« An mich gewandt, fährt sie fort: »Dann wollen wir mal.«
Gemeinsam hieven wir Stanislaw in die Seitenlage.
Während ich mich hinter ihn setze und stütze, versorgt die Ärztin den Musiker. »Sie haben Glück«, sagt sie. »Ich war gerade in der Apotheke und habe Pflaster gekauft.« Mit sicheren Bewegungen deckt sie eine blutende Wunde an seiner rechten Schläfe ab. Ihre Altfrauenhände sind ebenfalls faltig, aber die Fingernägel sind gepflegt und mit einem farblosen Lack überzogen. Ihre weißen Haare trägt sie in einer schlichten Hochsteckfrisur, einige Strähnen haben sich an den Schläfen und über der Stirn gelöst. Sie steckt in ausgeblichenen Jeans und einer überraschend roten Polobluse. An ihren Füßen sehe ich ebenso überraschend bunte Turnschuhe. Aber ihr legeres Outfit lässt dennoch keinen Zweifel an ihrer medizinischen Kompetenz aufkommen. Fürsorglich tupft sie das Blut von den Gesichtswunden des Musikers. »Ihnen ist bestimmt schwindelig, oder?«
Stanislaw nickt, er wird unvermittelt bleich, beugt sich vor, und dann übergibt er sich. Das heißt, er würgt nur.
Schnell stützt die Ärztin seinen Kopf. Außer einem kleinen Jungen, der uns mit offenem Mund beobachtet, haben sich die letzten Gaffer verdrückt.
»Ist nicht viel im Magen«, flüstert Stanislaw.
Die Ärztin streichelt ihm beruhigend über den Kopf. Dann untersucht sie behutsam seinen Körper, tastet seinen Bauch ab, hebt nacheinander die Beine an und befiehlt dem kleinen Jungen: »Hol mir vom Kiosk eine Flasche Wasser. Und sag, die Ärztin schickt dich. Ich zahle das später.«
Der Junge rennt los.
Ich schaue hoch. Genau in diesem Moment steigt der Radfahrer auf sein Rad und fährt davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich kann nicht aufstehen, weil ich noch Stanislaws Rücken stütze. Aber ich finde meine Stimme wieder und schreie: »Das ist Fahrerflucht! Jemand muss den Radfahrer anhalten!«
Frau Biermann wirft einen zerstreuten Blick auf den fliehenden Mann. »Diese verdammten Fixies!«
»Fixies?«
Ihr Gesichtsausdruck wird bitter. »Das kommt wie alles heute aus dem Englischen. Von der Abkürzung für Fixed-Gear-Bikes.« Sie rollt das R wie ein alter Küstenschiffer. »Die haben weder Bremsen noch Gangschaltung. Auch kein Licht, keine Schutzbleche oder Klingeln.«
Ich verstehe immer nur die Hälfte. »Fixed-Gear-Bikes?«
Die alte Dame nickt grimmig. »Sie sind wohl nicht von hier?« Während sie Stanislaw hilft, sich aufzusetzen, meckert sie: »Da gibt es Rechtschreibreformen am laufenden Band, dabei braucht die Bevölkerung vor allem Englischkurse.« Vorsichtig bettet sie Stanislaws Kopf auf ihrer Jacke, die sie zu einem Kissen zusammengelegt hat. Als der Junge mit der Flasche Wasser zurückkommt, flößt sie dem Mann vorsichtig ein paar Schlucke ein. Dabei redet sie unablässig. »Also, bei diesen Fahrrädern sind Pedale und Hinterrad über die Kette fest verbunden. ›Fixed‹, wie das auf Englisch heißt. Sie haben keinen Leerlauf und keine Rücktrittbremse. Anhalten ist damit ziemlich schwierig.«
Ich bin beeindruckt. »Sie
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