Erdbeerkönigin
flüsternd, bevor sie sich seufzend wieder niederlässt. »Und ich muss von Zeit zu Zeit die Möbel anders arrangieren.« So sitzen wir in der Nacht, schauen in den dunklen Park, und Dr. Lenchen erzählt von ihrem Leben als Ärztin. Sie war viele Jahre in Afrika, hat später sogar in Afghanistan gearbeitet und war bis zu ihrer Pensionierung am Universitätskrankenhaus tätig. Ihr Mann Johannes war ebenfalls Arzt, und sie sind gemeinsam gereist. Sie spricht mit großer Liebe von ihrem »Johnny«, und ihre Augen werden feucht, als sie von seinem Tod vor zehn Jahren berichtet.
»Er ist gestorben, sobald er nicht mehr täglich in die Praxis ging. Zack bumm, umgefallen. Da musste ich mich noch einmal neu erfinden. Und das mit fast siebzig Jahren«, erzählt sie. »Nach der ersten Hüftoperation brauchte ich eine Gehhilfe und entschied mich für das Altenheim. Man wird gut versorgt. Ich wollte jedoch keinesfalls auf die grüne Wiese in ein Seniorensilo abgeschoben werden. Ich wollte in der Stadt bleiben, mittendrin.«
»Der Mann im Kiosk wusste, dass Sie Ärztin sind.«
»Shaheen! Sicherlich weiß er das. Ich habe seiner Tochter einmal eine Salbe verschrieben.«
»Praktizieren Sie noch?«
Dr. Lenchen lächelte melancholisch. »Nein, obwohl ich das gern täte. Aber ich habe den Namen der Salbe notiert, und Shaheens Arzt hat sie dann verschrieben. Er war nur nicht selbst drauf gekommen.« Sie zuckt mit den Achseln. »Die moderne Maschinendiagnostik versperrt den jungen Kollegen manchmal den Blick. Es gibt Dinge, die muss man erspüren, die verrät einem kein Computer.«
Sie wirft einen routinierten Medizinerblick auf den schlafenden Stani. Dann streckt sie sich ein wenig. »Eva, können Sie mir noch helfen, für mich Bettzeug aus dem Schrank zu holen? Ich glaube, ich habe zu viel Cognac getrunken.« Also steige ich auf einen Hocker und angle eine Zusatzdecke heraus. Wir bauen für Dr. Lenchen ein Bett auf dem Sofa. »Sie kommen also aus Eppendorf?«, fragt Dr. Lenchen und zieht das Laken glatt.
»Nein, ich bin nur zu Besuch in Hamburg.«
»Das heißt, Stani ist direkt in Ihren Urlaub gerasselt?«
Ich muss lächeln. »Urlaub ist vielleicht nicht das treffende Wort«, antworte ich, und dann erzähle ich ihr von der Grabrede.
Dr. Lenchen hört aufmerksam zu. »Das ist eine große Aufgabe«, sagt sie und bedenkt mich mit ihrem Grüne-Augen-Strahlen. »Dann sollte ich Sie gleich mal als Grabrednerin in mein Testament aufnehmen. Sie hätten dann ja eine gewisse Übung.«
»Dr. Lenchen! Sie haben doch noch jede Menge Energie«, protestiere ich erschrocken.
Sie winkt ab. »Wer weiß das schon? Das kann schneller gehen, als man glaubt.« Ihr Gesicht ist gelassen. »Das ist kein Grund, besorgt zu sein, Schwester Eva. Am Ende bleibt von mir die Platte auf einem Grab. Darauf steht mein Name, so wie er in meiner Geburtsurkunde notiert wurde. Zwischen Geburts- und Sterbeurkunde liegt das Leben.« Ihr Lächeln ist eine Mischung aus Wehmut und Schalk. »Man war Vereinsmeisterin, Ehefrau, Mutter, Ärztin. Aber am Ende ist man genauso wenig oder viel wie als Säugling. Man hatte einen Namen. Und die Geschichte dahinter kennt kaum jemand.«
Als sie meine betroffene Miene bemerkt, tätschelt sie aufmunternd meinen Rücken. »Und jetzt rufe ich Ihnen ein Taxi.« Sie gähnt herzhaft. »Es ist spät geworden.«
Dr. Lenchen bleibt an der Tür stehen und winkt mir nach, während ich zum Fahrstuhl gehe. Als ich mich ein letztes Mal umdrehe, ruft sie: »Schwester Eva! Haben Sie Lust, morgen zum Kaffee zu kommen?«
Und bevor ich nachdenken kann, höre ich mich schon antworten: »Nichts lieber als das.«
In Daniels Wohnung angekommen, bin ich immer noch nicht müde. Ich stehe vor dem Kühlschrank und studiere die Fotos. Vorsichtig schiebe ich das Bild mit Baby Mia zur Seite und betrachte das Foto von Daniel im Krankenhaus.
»Ein Name. Und die Geschichte dahinter kennt kaum jemand«, höre ich die Stimme von Dr. Lenchen. In Traueranzeigen steht häufig »Tapfer ertrug er seine schwere Krankheit«. Zum ersten Mal frage ich mich: Wie tapfer war Daniel? Wie ist er gestorben? Ich weiß nicht, ob es auch bei mir am Cognac liegt, aber meine Gedanken hüpfen in meinem Kopf herum wie eine aufgescheuchte Hühnerschar. Als ich wieder einmal meine Wohnungswanderung aufnehme, stolpere ich im Korridor über die neuen Laufschuhe. Ach ja, laufen. Zur Ruhe kommen, mein heißer Kopf und die kühle Nachtluft. Soll ich laufen? Jetzt sofort?
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