Erdbeerkönigin
Dabei könnte ich meine Gedanken ordnen und müde werden. Sofort verwerfe ich den Gedanken. Es ist doch viel zu spät! Wenn ich zu Hause um diese Uhrzeit laufen würde, landete ich in der Finsternis mit großer Sicherheit im Straßengraben oder im Dorfteich.
Ich öffne die Balkontür und stehe in der frischen Nachtluft. Und dann nehme ich die vielen Lichter um mich herum wahr. In den Häusern leuchtet es aus den Fenstern, die Straßenlaternen erhellen das Pflaster, Autos und Fahrräder sind unterwegs. Hier könnte ich jederzeit laufen. Auch jetzt.
Wenig später stehe ich unschlüssig in Daniels Kleiderschrank. Hier finde ich bestimmt eine Sporthose. Allerdings hat bisher keiner seiner Freunde erwähnt, ob Daniel Sport getrieben hat. Doch zum Glück fällt mir eine Sweathose in die Hände, aber der Gummizug ist viel zu weit für mich. Noch einmal arbeite ich mich durch die Regale. Die alten Bermudashorts, die ich aus der letzten Schrankecke fische, haben zwar auch schon bessere Tage gesehen, aber für den ersten Lauf im Dunkeln sollten sie ausreichen. Der Kordelzug in der Taille lässt sich gut auf meinen Bauchumfang einstellen. Die Bermudas sehen aus wie ein ehemaliges Lieblingsstück, das jedoch seit Jahren nicht mehr getragen worden ist. Sie sind rot und weiß gestreift, passen also sogar zu den Laufschuhen, versichere ich mir selbst bei einem Blick in den Spiegel. Ich finde mich enorm unternehmungslustig und selbständig und hoffe sehr, dass dieses Gefühl nicht nur vom Cognac herrührt.
Draußen schlage ich den Weg am Kanal entlang ein. Bereits an der Ampel kommt mir ein anderer Jogger entgegen. Er nickt mir zerstreut zu und läuft an mir vorbei. Von nun habe ich keine Sekunde mehr Angst und laufe die Strecke bis zur Christuskirche. Zu meiner Freude gibt es sogar noch langsamere als mich, an denen ich vorbeiziehe.
Unterwegs denke ich weiter über die Grabrede nach. Mein Englischlehrer hat einmal den berühmten amerikanischen Schriftsteller Ernest Hemingway zitiert: »Jeder erste Entwurf ist Mist.« Ich entschließe mich, diesen Ausspruch ernst zu nehmen. Und erstaunlicherweise freue ich mich auf meinen nächsten Versuch. Er kann ja nur besser werden. Vielleicht können mir Dr. Lenchen und Stani mit ihrer Lebenserfahrung helfen? Überhaupt: Stani! Ich werde ihn fragen, ob er an Daniels Grab spielen mag. Stanis angstvoller Gesichtsausdruck, als ich einen Krankenwagen rufen wollte, steht mir plötzlich wieder vor Augen. Wie verloren müssen sich Menschen fühlen, die sich nicht so selbstverständlich wie wir jederzeit in ärztliche Betreuung begeben können! Und dabei macht es auf einmal keinen Unterschied mehr, ob man in der Stadt oder auf dem Land lebt.
Ich ziehe noch einmal das Tempo an. Eine Stunde später stehe ich verschwitzt und sehr zufrieden unter der Dusche. In dieser Nacht schlafe ich durch.
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11 . Kapitel
Wenn Du Dein Alter nach Belieben verändern könntest – wärst Du dann älter, jünger oder im jetzigen Alter?
(Gesprächsstoff: Original)
Mittwoch, Tag 8
M it leichtem Muskelkater in den Waden, aber ausgeschlafen wage ich am nächsten Morgen einen neuen Versuch, mit Nick zu sprechen, und rufe ihn an. Mein Herz hüpft dabei in meiner Brust wie bei einer 13 -Jährigen, die ihren Schwarm aus der Fotogruppe zum ersten Mal anspricht.
»Hallo, Schatz!«, sagt Nick. Seine Stimme klingt fast vergnügt, bemerke ich erleichtert, so als hätte es die Spannungen beim letzten Telefonat nicht gegeben.
»Hallo, Nick!« Im Hintergrund höre ich Geräusche. »Na, was machst du?«
»Wir frühstücken gerade. Das heißt, ich frühstücke, und unser Sohn pult die Rosinen aus dem Müsli.«
Ich sehe das Bild sofort vor mir. Obwohl Benny keine Rosinen mag, möchte er immer, dass wir eine bestimmte Müsli-Sorte kaufen, die ihm zwar besonders gut schmeckt, aber Rosinen enthält. Wir haben alles versucht: andere Müsli-Sorten, selbst gemischtes Müsli – selbstredend ohne Rosinen. Cornflakes statt Müsli. Honigbrote. Aber Benny möchte nur diese eine Müsli-Sorte – und pickt mit zusammengezogenen Augenbrauen die Rosinen heraus.
»Und du?«, fragt Nick.
»Ich will heute mal an die Elbe fahren.«
»Wie ist das Wetter?«
Ich schaue aus dem Fenster. »Kann ich noch nicht sagen. Grauer Himmel. Und bei euch?«
»Vorhin hat es genieselt, aber es klart schon wieder auf.«
Benny sagt etwas.
Nicks Stimme nimmt einen hektischen Tonfall an. »Du, Eva, lass uns doch später mal sprechen. Ich muss jetzt
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