Erdbeerkönigin
in denen Detektive ihre Kombinationsgabe unter Beweis stellen können. Sie stellt wie abschließend fest: »Das Ganze war doch mehr Zufall als Auswahl.« Dann sieht sie meine finstere Miene und schränkt ein: »Ich weiß auch, dass es anders viel romantischer wäre: Daniel, der Ritter in glänzender Rüstung, der Dornröschen Eva entführt.« Sie verdreht so verschmitzt die Augen, dass ich wider Willen wieder lächeln muss, und fährt fort: »Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Viel wichtiger ist doch die Frage, wieso er Sie noch als Toter so sehr fasziniert, dass Sie Ihr Leben stehen und liegen lassen.« Sie sieht mich ehrlich interessiert an.
Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Schließlich antworte ich: »Ich habe mir manchmal vorgestellt, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn Daniel und ich zusammengekommen wären. Wäre ich ihm nach Hamburg gefolgt? Hätte ich mehr Kinder bekommen? Keine Kinder? Wäre mein Leben mit ihm aufregender gewesen? Aber ich habe mich nie getraut, das zu erforschen.« Nach einer kurzen Pause ergänze ich: »Das wollte ich auch Nick nicht zumuten.« Und nach einer weiteren Pause sage ich, diesmal ohne Zögern: »Ich liebe Nick.« Aber dann muss doch wieder schlucken und höre mich murmeln: »Glaube ich jedenfalls.«
Dr. Lenchen nickt. »Also war Daniel …« – jetzt sucht sie nach Worten – »… ein Bedauern verpasster Chancen?«
»Ich weiß nicht. Muss es nicht mehr sein? Kann dieses Gefühl des Bedauerns so stark sein?«
Dr. Lenchen stützt ihr Kinn in die rechte Hand. »Alle Gefühle können so stark sein. Das Bedauern über verpasste Chancen schließt einen selbst ja mit ein. Sie bedauern vielleicht auch, dass Sie damals anders waren als heute. Dass Sie die Möglichkeiten Ihres Lebens nicht optimal genutzt haben. Stimmt’s?«
Ich bin immer noch erschrocken, aber jetzt auch erleichtert und versuche die Diskussion ins Lustige zu ziehen. »Sie meinen, es ist gar nichts Ernstes, sondern nur eine normale Midlife-Crisis?«
Dr. Lenchen grinst skeptisch.
Ich spiele mit meinem Kaffeelöffel. »Aber all diese Gedanken über verpasste Chancen und Lebenskrisen erklären doch immer noch nicht, warum er wollte, dass ich seine Grabrede halte. Seine Freunde, vor allem seine letzte Freundin, finden das überflüssig.« Ich erzähle von Francescas Anruf, aber auch von meiner Idee, an die Elbe zu fahren und mir noch einmal die Orte anzusehen, die ich mit Daniel damals besucht habe.
Für Francesca hat Dr. Lenchen nur ein müdes Lächeln übrig: »Die wird sich schon beruhigen.« Meinen Spaziergang in die Vergangenheit findet sie sehr gut und schlägt mir vor, dazu die Schiffe des Hamburger Verkehrverbands zu benutzen. »Sie können vom S-Bahnhof direkt zu den Landungsbrücken fahren. Von dort geht ein Schiff nach Övelgönne – dort war ja früher das Restaurant, von dem Sie erzählt haben.«
»War? Gibt es das Övelgönner Fährhaus nicht mehr?« Für eine Sekunde steht mir das gediegene Speiserestaurant vor Augen, die auf weißen Tellern servierten Kroketten, die Leinenservietten, die mit meergrünem Plüsch bezogenen Stühle – und Frau Pilz mit ihrer Trockenblumenumarmung. Dr. Lenchen reibt sich die Nase. »Soviel ich weiß, nicht. Aber die Tour lohnt sich allemal.« Sie legt ihre Stirn in Falten. »Und ich kümmere mich um unseren Russen. Ich werde einmal bei einem alten Freund in Eppendorf anrufen: Der spricht erstens etwas Russisch und liebt zweitens Musik. Und drittens hat er eine sehr große Wohnung für sich allein. Mit Fahrstuhl.« Ihr freundliches Lächeln versöhnt mich wieder völlig mit ihr.
Bevor ich mich von ihr verabschiede, stelle ich ihr noch eine Frage: »Wie haben Sie es geschafft, so lange mit Ihrem Johnny glücklich zu sein?«
Dr. Lenchen wirft mir einen scharfen Blick zu. »Wer sagt Ihnen, dass wir glücklich waren? Ich vermisse Johnny oft, aber wir waren nicht immer glücklich. Im Gegenteil, häufig waren wir unglücklich, auch miteinander. Wir haben gestritten und gehadert.« Sie tätschelt mir geistesabwesend die Hand. »Ich glaube, dass Paare Veränderungen bejahen sollten. Aneinander, miteinander und überhaupt. Ich wollte auf keinen Fall etwas mit ihm verpassen. Glücklich sein und verliebt sein – das hatten wir ja bereits erlebt und das war das Fundament unserer Liebe.« Sie zeigt auf den Weg hinter der Terrasse: Im Park joggt ein junges Paar vorbei. »Sehen Sie mal, die beiden. Später können sie nicht mehr so laufen wie heute. Weil
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