Erdbeerkönigin
beschwert hat. Mit jammervollen Patzern und ausgesprochen unbegabt spielt die verhärmte Brünette in unförmigen Klamotten immer wieder die ersten Töne des bekannten Liebesliedes »Besame mucho«. Jedenfalls erinnern daran die quietschenden Töne, die sie ihrem abgewetzten kleinen Akkordeon entlockt. Ich kann verstehen, dass Billie das stümperhafte Spiel unerträglich findet.
Doch dann ändert sich die Szene. Fünf Männer in Uniform marschieren neben der Spielerin auf. Wird hier ein Film gedreht? Die anderen Passanten schenken den Männern keine Beachtung. Eine Sekunde später weiß ich auch, wieso, denn die Männer beginnen zu singen. Also gehören sie zu der großen Gruppe russischer Straßenmusiker, von denen Stani erzählt hat. Staunend betrachte ich das Quintett. Sie scheinen russische Soldaten zu spielen – jedenfalls tragen sie etwas, was in meinen Augen wie eine Soldatenuniform aussieht. Neben diesem Chor ist das Gefiepe des Akkordeons nicht mehr zu hören.
Die Musikerin zückt ihr Handy und spricht aufgeregt hinein. Noch während ich über den Platz gehe, hält ein dunkler Kombi unter der Brücke. Drei breitschultrige Männer in schwarzen Lederjacken und Sonnenbrillen steigen aus. Hinter mir höre ich, wie zwei Skateboardfahrer über den Platz rumpeln. »Kevin, warte mal!«, schreit der eine. »Gleich gibt’s hier Zunder zwischen Russenmafia und den Musik-Rumänen.«
Der andere kommt mit lautem Knall zum Stehen. »Könnte spannend werden.« Es ist, als hielte die Gegend sekundenlang die Luft an: Die Geräusche scheinen zu verstummen, keine Autos sind zu hören, kein Kind schreit, kein Hund bellt. Die Lederjacken gehen direkt auf die Sänger zu. Diese verstummen, heben die Hände und verschwinden innerhalb weniger Sekunden im Bahnhofsgebäude. »Alter, da läuft nichts mehr!«, sagt einer der Skateboarder enttäuscht. Die beiden setzen ihre Füße wieder auf die Bretter. Wenig später hat das Tor des U-Bahn-Eingangs sie verschluckt.
Die Männer im schwarzen Leder treten auf die Akkordeonistin zu. Einer will ihr ihre Geldbörse abnehmen. Doch die Musikerin, die neben den Männern noch kleiner und zerbrechlicher wirkt, zieht sie weg und verbirgt sie unter ihrem Rock. Dann entlädt sich eine laute Schimpflawine auf die Männer. Besonders auf einen hat sie es abgesehen. Sie hält ihn sogar an seiner Jacke fest. Die anderen winken ärgerlich ab und gehen zum Auto. Auch der dritte schüttelt den Arm der Frau endlich ab. Er brüllt sie an, aber sie zetert zurück. Schließlich dreht er sich um und folgt den anderen. Die Frau ruft ihm noch etwas nach, doch er reagiert nicht mehr.
Jetzt sehe ich die Frau, die erneut ihr Instrument bearbeitet, mit anderen Augen: Sie erhält sicher nur wenig Lohn für ihr Gequietsche. Wer weiß, wie sie lebt und wo sie schläft. Sie wird alles, was sie bekommt, später einer dieser Lederjacken geben müssen. Wenn sie das nicht tut, kennen die Männer aus dem Kombi bestimmt Methoden, sie zu allem zu zwingen, was ich mir gar nicht vorstellen möchte. Trotzdem mustere ich sie mit einer gewissen Bewunderung und hole aus meinem Portemonnaie etwas Kleingeld. Bestimmt wird die Frau später dafür bezahlen, dass sie sich vorhin den Männern widersetzt hat. Doch im Moment hat sie gesiegt. »Danke!«, ruft sie, als ich einige Münzen in den Instrumentenkoffer werfe. Sie sieht mich aus dunklen Augen kurz und intensiv an, und ihr Blick fährt mir wie ein heißer Strahl in den Körper. Unwillkürlich hebe ich Brustbein und Kinn. Diese Frau weiß, was Überlebenskampf heißt. Da wird mich doch zum Beispiel Daniels aufgedrehte Ex-Freundin nicht daran hindern, meinen Auftrag als Grabrednerin auszuführen.
Im U-Bahnhof höre ich schon von weitem »Kalinka«. Die russischen Soldaten haben sich an einer Litfasssäule positioniert. Selbst als sich die Türen der Bahn schon hinter mir geschlossen haben, ist ihr herzerweichender Gesang weiter zu hören.
Der Zug fährt bald darauf über eine Hochbrücke. So hat man aus dem Fenster einen weiten Blick über den Hafen, der mit seinen Schleppern, Fähren und Segelbooten Hamburg wieder wie aus der Tourismusbroschüre präsentiert. An den Landungsbrücken finde ich schnell das richtige Schiff elbabwärts. Ich sitze auf dem Oberdeck, lasse mir den Fahrtwind um die Nase wehen und bin dankbar dafür, dass sich einige Wolken vor die Sonne geschoben haben. Sonnenschutzcreme habe ich nämlich nicht dabei. Kreischende Möwen begleiten das Schiff – mich
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