Erdbeerkönigin
packt Reisefieber, so als ob ich eine weitaus längere Fahrt antreten würde. Am Elbstrand sehe ich Spaziergänger und Jogger. Einige Kinder planschen sogar im Fluss, ihr Gelächter dringt bis zum Schiff hinüber. Ein großes Containerschiff kommt uns entgegen, kleine Privatboote kreuzen unsere Route. Eine Frau winkt von einem Schlepper zu uns herauf. Diese Geste erinnert mich an etwas, aber es gelingt mir nicht, den Gedanken festzuhalten.
Als ich in Övelgönne aussteige, hat sich der Himmel verfinstert, weit entfernt grollt ein Gewitter. Ich erkenne sofort, dass Dr. Lenchen recht hatte: Das Restaurant Övelgönner Fährhaus ist geschlossen. Der Schriftzug an der Fassade ist noch zu erkennen, aber ein Schild informiert mich über »Umbau und Sanierung« des Hauses, in dem jetzt Privatwohnungen entstehen. Ich stehe unschlüssig vor dem Bauzaun. Wie sind wir damals gelaufen? Da drüben ist nach wie vor die Bushaltestelle. Dort hat damals der Akkordeonspieler gestanden. Ich schließe die Augen, versuche mich genau zu erinnern.
Es hatte geregnet. Wir waren unter das Dach der Haltestelle gerannt. Ich sehe wieder den Tropfenflug vor mir – in kurzer Zeit bildeten sich Pfützen auf der Straße. Daniel hielt meine Hand sehr fest und zog mich hinter sich her. Ich weiß noch, wie sicher ich mich bei ihm fühlte und wie aufgeregt ich war. Ich mit einem hübschen Jungen auf der Flucht!
Aber wohin sind wir dann gelaufen? Ratlos sehe ich mich um. Nach rechts oder nach links? Rechts schieben sich Touristengruppen, Familien mit Kindern und Spaziergänger Richtung Elbstrand. Links geht es offenbar in Richtung Zentrum. Ich müsste also nach rechts laufen. Wieso fällt mir nicht mehr ein, wie wir zum Elbstrand gekommen sind? Ich weiß nur, dass es in Övelgönne begonnen hat. Wir sind damals nicht hier geblieben.
Ein Blitz flackert über den Himmel. Wenig später ist der Donner über dem Wasser zu hören. Und dann regnet es – ein viel zu sanftes Wort für das Naturschauspiel, das sich jetzt ereignet. Es schüttet wie aus Eimern. Wind kommt auf und peitscht das Wasser zu Boden. Ich halte meine Jacke über den Kopf und renne wie damals zur Bushaltestelle. Auch andere Leute sind schon auf die Idee gekommen – ich lande in einer Gruppe, eingequetscht zwischen einer dicken Frau, die mit schwäbischem Akzent über das »bissle Regen« ins Handy schwätzt, und einer jungen schwarzen Mutter, die ihr erschrockenes Baby zu beruhigen versucht. Schirme werden aufgespannt, vom Wind umgestülpt, einige fliegen davon. Die Menschen drängen in die Cafés und Autos, in wenigen Minuten sind die Wege fast leer.
Mein Ausflug in die Erinnerung fällt also buchstäblich ins Wasser. Dann hält ein Bus, und ich werde mit der Menge ins Innere geschoben. Ich ergattere einen leeren Platz und versuche durch das beschlagene Fenster einen Blick auf die Welt draußen zu erhaschen, die im Regen zu versinken scheint. Auf den dunklen Elbwellen fährt ein Schlepper wie der, von dessen Deck vorhin die Frau gewinkt hat.
Und dann sehe ich Daniel wieder an einer Reling, er winkt einer Gruppe von Kindern zu, die von einem Schlepper zurückwinken. Genau! Daran hat mich die Szene auf der Herfahrt erinnert: an Daniel auf einem Schiff, das genauso aussah. Und jetzt fällt es mir wieder ein: Wir sind damals nicht zu Fuß die Elbe entlanggewandert – wir haben das gleiche Verkehrsmittel gewählt wie ich vorhin: Wir sind mit dem Schiff gefahren. Allerdings flussaufwärts. Wir sind irgendwo ausgestiegen und von dort gelaufen. Geradewegs in eine geheimnisvolle Nacht …
Damals
Außer Atem erreichten sie die Bushaltestelle. Erst dann ließ Daniel ihre Hand los. Auf eine gewisse Weise war Eva erleichtert, weil sich die ungewohnte körperliche Nähe zwischen ihnen damit auflöste. Gleichzeitig war sie enttäuscht – sie spürte den Druck seiner Hand nach wie vor, wie einen Phantomschmerz.
Daniel schüttelte sich den Regen aus den Haaren. »Super, so ein Gewitter, was?«
Normalerweise hätte sie jetzt ihr Gehirn nach einer schlagfertigen Antwort durchforstet. Oder sie hätte einen roten Kopf bekommen und verlegen zu Boden geschaut. Doch in Daniels Gegenwart geschah das nicht. Sie nickte lediglich. Dann standen sie Schulter and Schulter unter dem Dach der Bushaltestelle und starrten in das gischtige Grau aus Regen und Elbwasser. Die Luft roch nach Sommer und Feuchtigkeit, nach Wasser und Salz. Eine Möwe vertraute sich einer Windböe an und wurde hoch über ihre
Weitere Kostenlose Bücher