Erdbeerkönigin
Milchkaffee.« Als die Kellnerin gegangen ist, frage ich Dr. Lenchen: »Und was sagt die Chefärztin zu unserem Patienten?«
Sie wiegt den Kopf. »Er ist noch ein wenig schwach und hat ein dumpfes Gefühl im Kopf, aber in der Regel verschwinden die Symptome nach einigen Tagen körperlicher Schonung und Bettruhe von allein.« Sie zwinkert ihm zu. »Und weil Fernsehen in den ersten Tagen vermieden werden sollte, habe ich ihn zu einem Cafébesuch überredet. Wenn man aufstehen kann, sollte man das auch tun. Nur nichts übertreiben.«
Stani ist zwar noch etwas blass und seine Gesichtsverletzungen sind gut zu sehen, aber er wirkt ebenso munter wie Dr. Lenchen. Er ist offensichtlich frisch rasiert und sieht in einem weichen Baumwollhemd aus wie ein entspannter Rentner. Dr. Lenchen fängt meinen Blick auf. »Alte Leute haben ja immer Probleme, sich von Dingen zu trennen. In diesem Fall war es gut, dass ich noch einen Einweg-Rasierer besaß. Ich konnte Stani schließlich kaum als meinen verschollenen Schwiegersohn vorstellen, solange er wie ein Pirat auf Landgang aussah. Und das Lieblingshemd von Johnny … Ich bringe es nicht über mich, es wegzuwerfen.« Ihre Augen glänzen. »In den ersten Monaten nach seinem Tod habe ich in seinem Pyjama geschlafen. Albern, was?«
Stanislaw sagt: »Dr. Lenchen, die Liebe ist groß wie Himmel – und wir Menschen klein, zu klein. Wir brauchen Zeichen der Liebe, zum Berühren.«
Während die beiden einander freundlich anschauen, kommt mir eins von Alissas Tschechow-Zitaten in den Sinn. Der soll nämlich geschrieben haben, dass es nur einen wahren Satz über die Liebe gibt, nämlich: »Dieses Geheimnis ist groß.«
Nachdem mein Kaffee gebracht wurde, frage ich Dr. Lenchen: »Was haben Sie denn nur hier über uns erzählt? Was haben Handwerker mit Grönland zu tun? Und mit Rollschuhlaufen?«
»Grönland war Stanis Idee«, wehrt Dr. Lenchen ab.
»Rollschuhfahren Ihre«, kontert er.
Endlich erfahre ich alles: Dr. Lenchen hatte dem Nachtdienst Stani als ihren Sohn vorgestellt, der beim Rollschuhlaufen schwer gestürzt sei, aber nicht in seine Wohnung könnte, weil dort gerade renoviert würde. »Zu Ihnen, also zu seiner Tochter, konnte er auch nicht, weil Sie sich auf der Rückreise von Grönland befanden und ich keinen Schlüssel hatte.« Dr. Lenchen erzählt das so überzeugend, dass selbst ich kaum noch Zweifel verspüre. Allerdings sage ich: »Ausgerechnet Grönland!« Ich zeige ihr scherzhaft einen Vogel.
»Ausgerechnet Rollschuhfahren«, ergänzt Stani.
»Hätte ich die Story mit dem kriminellen Fahrerflüchtling erzählt, wäre hier doch gleich eine Ermittlung angelaufen«, verteidigt sich Dr. Lenchen. »Schließlich hat Stani einige ernste Schrammen davongetragen.« Stani hebt seine Kaffeetasse. »Ein kleines Fahrrad mich nicht so schnell fährt tot. Da habe ich schon andere Dinge überlebt in Moskau.«
Ich kann meine Neugier nicht mehr im Zaum halten. »Wo hätten Sie geschlafen, wenn Dr. Lenchen Sie nicht aufgenommen hätte?«
Stani blickt mich offen an. »Ich habe zwei Adressen, wo anrufen kann. Sind Russen, da kann ich manchmal schlafen.«
Ich bin entsetzt. »Und wenn das nicht geht?«
Stanislaw zuckt mit den Achseln: »Manchmal ich schlafe draußen. Jetzt ist nicht so kalt. Außerdem, es gibt einige Häuser, wo man schlafen kann ohne Papiere. Das aber nicht gut. Leute stehlen. Ist laut. Lieber schlafe ich im Park – oder bei Bekannten.«
Dr. Lenchen sagt resolut: »Das kommt jetzt aber nicht in Frage. Sie brauchen Ruhe, und es schadet bestimmt nicht, noch eine Nacht in einem Bett zu verbringen.«
Stani nickt. Er gähnt hinter vorgehaltener Hand. »Um ehrlich zu sein, ich jetzt gern würde wieder gehen in Bett.« Er wirft mir einen Blick zu. »Kennen Sie Tschechow?«
Ich bin von dieser Frage so überrascht, dass ich nur stumm nicke.
Stani zitiert: »Es gibt keinen größeren Genuss auf Erden als den Schlaf, wenn man schlafen will.«
Manchmal ist mir dieser Stanislaw unheimlich. Nicht nur, dass er mir in Hamburg ständig über den Weg läuft, jetzt zitiert er dazu noch den Lieblingsdichter meiner besten Freundin.
Dr. Lenchen zieht einen Schlüssel aus ihrer Handtasche. »Dann legen Sie sich bitte hin. Wir bleiben noch ein bisschen hier. Eva soll ihren Kaffee in Ruhe austrinken.«
Stanislaw erhebt sich langsam.
Ich halte ihn zurück. »Ich würde Sie gern noch etwas fragen.«
Stani lässt sich wieder auf seinen Stuhl sinken.
»Sie haben mir am
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