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Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schütze
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Köpfe getragen. Ihr Kreischen klang zu ihnen herunter. Die Wolkendecke riss auf und gab mitten im Regen ein Stück hellblauen Himmel frei. Während der Regen schon weniger hart fiel, schien die Sonne auf den Asphalt, und das Licht brach sich in den farbigen Prismen der Tropfen.
    Ein quietschender Ton ließ sie herumfahren. Den Akkordeonspieler hatten beide vergessen. Er zog jetzt den Balg seines Instruments auseinander, was dieses ächzende Geräusch verursachte. Der Musiker trug einen abgewetzten, locker sitzenden Anzug und einen kleinen dunklen Hut. Sein Gesicht unter der Krempe war von einem undefinierbaren Alter, tiefe Falten durchzogen die gebräunte Haut. Er sah die jungen Leute an und machte eine Bewegung mit dem Kopf nach oben. Als sie seinem Blick folgten, entdeckten sie einen großen Regenbogen, der sich über den Himmel wölbte und vom Containerhafen bis zur Elbmündung zu reichen schien. Eva fühlte sich wie ein Kind im Märchenland – andächtig staunend und erfüllt von einer fröhlichen Aufgeregtheit, die ihren Körper warm durchströmte.
    Hinter ihnen erklang das Akkordeon. Es war ein trauriger langsamer Walzer. Daniel sagte: »Das ist aus dem Film ›Der Pate‹.« Den hatte Eva zwar nicht gesehen, aber sie kannte die Melodie. Sie summte ein wenig mit, streckte ihre Hand unter dem Dach der Bushaltestelle hinaus und spürte erleichtert, dass sich das Unwetter in sanft fallenden Sommerregen verwandelt hatte. Da tat Daniel etwas Überraschendes: Er nahm erneut Evas Hand – und das fühlte sich gut, so gut an. Aber er zog Eva nicht wieder mit sich, sondern nahm ihre rechte Hand in seine linke und legte ihre linke auf seine Schulter.
    »Walzer ist zwar überhaupt nicht mein Tanz, aber …«, sagte er und zuckte mit den Schultern. Dann spürte sie seine Hand auf ihrem Rücken und wie er sie an sich heranzog. Er schloss die Augen, machte einige Tanzschritte, und Eva merkte, wie ihr Körper seinem folgte. Es gab kein Überlegen, welcher Fuß als nächster wie bewegt werden musste, kein Zählen des Dreivierteltakts, sondern nur ein Schwingen in der Musik, eine Bewegung, so natürlich wie das Atmen. So tanzten sie unter dem Regenbogen. Eine Gruppe gutgelaunter Rentner und Rentnerinnen, die mit Regenschirmen und Plastikhauben ebenfalls unter dem Dach der Haltestelle Schutz suchten, betrachteten sie gerührt. Einige wiegten sich im Takt. Eva empfand die Regentropfen auf ihrem Gesicht wie die Berührungen zarter Finger. Sie vergaß ihre Mutter, Tante Hedwig, Frau Pilz. Sie spürte Daniels Körper, seinen Atem an ihrem Ohr. Sie vergaß, dass sie sich oft hässlich, unscheinbar und fehl am Platz fühlte. Sie gehörte hierher, in diesen Moment, und spürte Freude und Zärtlichkeit. Sie spürte Glück.
    Das Läuten einer Schiffsglocke und eine verzerrte Ansage mischten sich in die Musik. Daniel schreckte auf, sah zum Anleger hinüber. Dann blieb er plötzlich stehen. Er suchte Evas Blick und lachte wieder dieses sorglose Lachen, um das sie ihn beneidete. »Komm, wir nehmen eine Hafenfähre, ja? Hast du Lust?« Wieder ergriff er ihre Hand und rannte los. Und wieder lief sie ohne zu fragen mit. Ihre Schultertasche, die sie bei ihrer Flucht im letzten Moment von der Lehne des Stuhls gezogen hatte, tanzte auf ihrem Rücken. Sie stürmten die Rampe des Anlegers hinunter, schlitterten lachend über das nasse Holz und sprangen im letzten Moment an Bord.
    Eva folgte Daniel hinauf aufs Oberdeck. »Wir sind sowieso schon nass, da können wir auch hier draußen bleiben!«, rief er und wandte sein Gesicht in den Fahrtwind. Er hob seine Hand und ließ sich auf eine Bank an der Reling fallen.
    »Der Regen lässt auch schon nach.« Tatsächlich verzogen sich die Wolken im warmen Sommerwind so schnell, wie sie aufgezogen waren.
    Eva setzte sich neben Daniel. Sie streifte ihre Schuhe und Strümpfe ab und wrang Letztere aus. Ihr lag etwas Entschuldigendes auf den Lippen. Etwas wie »Es ist unangenehm, in nassen Strümpfen zu laufen«. Doch bevor sie den Mund öffnen konnte, sagte Daniel: »Du hast süße Füße.«
    Erstaunt blickte Eva erst ihn an und dann auf ihre nackten Füße. Sie hatte sich noch nie darüber Gedanken gemacht, wie ihre Füße aussahen. Ihr Dauerthema war ihre Figur. Sie war zu kräftig, fand sie. Aber sie spielte Volleyball in der Schulmannschaft, und obwohl sie nicht so groß war wie die besten Spielerinnen, konnte sie gut mithalten. Beim Spiel kam es auf ihre Kraft und Ausdauer an, und wenn sie auf dem

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