Erdbeerkönigin
dass Daniel darauf besonders viel Wert gelegt hätte.« Sie schluckt. Dann nimmt sie den Faden wieder auf. »Aber wer weiß? Wir haben dann ja sowieso nicht mehr miteinander sprechen können. Sie haben erzählt, dass er wohl noch mit seinem Zimmernachbarn ein paar Worte gewechselt hat und danach nicht mehr ansprechbar war.«
Spontan will ich von Sven Berger erzählen, aber im letzten Moment halte ich mich zurück. Was soll Alexandra mit Bergers Worten anfangen?
»Hubertus und ich saßen bei Daniel im Sterbezimmer. Er atmete so schwer.« Bei der Erinnerung schließt sie für einen Moment die Augen. Aus dem Kinderzimmer dringt jetzt die Titelmelodie von »Bibi Blocksberg« herüber. Alexandra reißt sich zusammen. »Hubertus hat mit Daniel gesprochen.« Sie schüttelt den Kopf. »Die meisten Leute halten Hubertus für einen aalglatten Anwalt – und mit Sicherheit ist er das auch. Aber wenn es um Daniel ging, war er völlig anders. Als wir uns kennenlernten, dachte ich sogar, dass Hubertus in Daniel verliebt war, aber es ging noch tiefer.« Sie presst die Lippen zusammen. »Kaum zu glauben, dass etwas tiefer als Liebe gehen kann, oder?«
Sie erwartet keine Antwort von mir.
»Hubertus hat von ihren gemeinsamen Reisen gesprochen. Sie waren seit ihren Studienzeiten immer wieder zusammen unterwegs. Vorzugsweise in den Süden. Daniel wollte ja immer ans Meer. Er brauchte das. ›Küstenhungrig‹ nannte er es. Er hatte Küstenhunger wie andere Fernweh.« Für einen kurzen, schönen Moment flackert ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Und als Daniel und ich verheiratet waren, haben wir uns mal zusammen in Südfrankreich ein Haus gemietet. Das war ein wunderbarer Sommer. Hubertus hatte gerade Theo kennengelernt, und Daniel und ich verlebten den ersten langen Urlaub mit Mia. In der Babyzeit sind wir immer nur für ein paar Tage mit ihr an die Ostsee gefahren. In Südfrankreich hatte sie gerade angefangen zu laufen. Daniel und Hubertus haben gekocht – wir sind alle drei Kilo schwerer nach Hause gekommen.« Sie nickt versonnen. »Wie lange das alles her ist.« Dann strafft sie den Rücken. »In jener Nacht, als Daniel starb, habe ich Mia allein gelassen. Sie schlief so schön, als ich fuhr, und ich hatte gehofft, dass sie meine Abwesenheit gar nicht mitbekommen würde. Aber sie ist leider aufgewacht, hat sich erschreckt, weil ich nicht da war, und dann versucht, mich zu erreichen. Sie wollte unbedingt auch ins Krankenhaus kommen, aber das habe ich nicht erlaubt. Sie ist doch noch so klein.« Alexandras Lippen zittern, und spontan schiebe ich meine Hand über den Tisch und ergreife ihre. Sie hält mich fest und weint nun hemmungslos. »Er hat sich gequält. Sein Gesicht war verzerrt, er sah so anders aus. Ich wollte nicht, dass Mia ihn so sieht. Weißt du, dieses Gesicht … Ich wache morgens mit diesem fremden Gesicht auf und schlafe mit ihm ein – wenn ich überhaupt schlafe.«
Der Tod, das habe ich im Krankenhaus gelernt, zeigt sich in vielen unterschiedlichen Formen. Manche Menschen sterben ruhig und friedlich, andere müssen kämpfen – und das sieht man manchmal noch in ihren Zügen, wenn sie bereits tot sind. Ich bin mir nicht im Klaren, ob es eine Verbindung zwischen einem erfüllten Leben und einem leichteren Sterben gibt, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass diejenigen Menschen schwerer gehen, die glauben, ihr Leben und ihre Möglichkeiten nicht ausgeschöpft zu haben. Und das hat nichts mit den Lebensjahren zu tun. Ich habe junge Menschen erlebt, die mit großer Ruhe und fast zuversichtlich starben, während alte Menschen wütend und verbittert ihre letzten Atemzüge taten.
Alexandra lässt meine Hand etwas verlegen los und schneuzt sich. »Seitdem will Mia jedenfalls nicht mehr allein zu Hause bleiben. Selbst am Tag nicht.« Sie schöpft Luft. »Heute habe ich einen Termin zur Krebsvorsorge.« Vorsichtig tupft sie sich die Wangen ab. »Seit Daniels Tod macht mir so etwas noch mehr Angst als sonst. Bei ihm ist der Krebs ja auch bei einer Routineuntersuchung gefunden worden.«
Ich kann gut verstehen, dass Alexandra bedrückt ist – und auch, dass sie Mia nicht dabeihaben will. Ich versuche, sie auf andere Gedanken zu bringen, und frage: »Kochte Daniel gern?«
»O ja, und zwar sehr gut.« Alexandra blickt sich suchend um und studiert die Buchrücken im Küchenregal. Dann zieht sie ein dickes Heft mit einem abwaschbaren Umschlag heraus. »Das ist Daniels Rezeptbuch. Hier hat er seine
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