Erdbeerkönigin
Papa gebacken zu haben. Schließlich antworte ich: »Ich denke schon. Jeder backt doch gern, oder?«
Es muss etwas in meiner Stimme sein, das Mia wachsam und fragend aufblicken lässt. Wir tauschen einen ernsten Blick. Schließlich sage ich: »Mein Vater ist gestorben, als ich zwölf war.«
Mia atmet hörbar ein. »Hatte er auch …« Sie holt tief Luft, als bräuchte sie für das nächste Wort besonders viel Kraft. »… Krebs?«
Ich zögere erst, aber dann entscheide ich mich für die Wahrheit. »Nein. Er ist eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Hirnschlag.«
Mia starrt mich an. Sie spielt mit dem Messer. Dann bricht es aus ihr heraus: »Aber dann konntest du dich ja auch nicht von ihm verabschieden!« Sie beißt sich auf die Lippen. Ich kenne den Schmerz, den Mia durchmacht, so gut, als wäre es meiner. Nein, ihr Schmerz
ist
meiner. Ich denke an das kleine Mädchen Eva, das fassungslos vor Papas leerem Bett stand. Mama hatte ihn fortbringen lassen, bevor ich wach war. Jahrelang habe ich schwer einschlafen können, weil ich Angst hatte, auch Mama würde in der Nacht sterben. Wie viele Morgen bin ich nach dem Aufwachen sofort auf Zehenspitzen in Mamas Schlafzimmer gelaufen, um mich zu überzeugen, dass sie da war! Und jedes Mal spürte ich die Erleichterung, wenn sie mir ihre Arme entgegenstreckte, wie ein warmes Sprudeln in meinem Bauch. Jetzt ist eingetreten, wovor ich mich mein ganzes Kinderleben gefürchtet habe. Mama ist nicht mehr da. Mama hat sich totgefahren. Sie ist verschwunden, ohne sich von mir zu verabschieden.
»Weinst du?« Wie aus weiter Ferne höre ich Mias Stimme. Ich sehe sie verwirrt an. Mia tupft mit ihrem erdbeerroten Zeigefinger auf meine Wange. Durch die Tränen vor meinen Augen kann ich sie kaum sehen, ich versuche erfolglos, die Tränen wegzublinzeln. Der Schmerz der kleinen Eva mischt sich mit dem Schmerz der großen Eva und schlägt wie eine Welle über mir zusammen. Ein Weinen erfasst mich, das mich in der Körpermitte zusammenkrampfen lässt und mich meine Arme um den Körper legen lässt, als ob ich mich selbst festhalten müsste. Es tut weh, aber dennoch ist es zur selben Zeit so, als ob die Tränen alle Bitterkeit, die Wut und die Verzweiflung von meiner Seele waschen.
Neben mir höre ich Mia schluchzen. Ich lege das Messer fort. Mia lässt es zu, dass ich sie umarme. Sie ist so groß, dass sie ihren Kopf an meine Schulter legen kann. Erst macht sie sich ein wenig steif, aber dann lässt sie los, ihr Körper wird weich. Sie schmiegt sich an mich, und wir halten uns im Arm und weinen, und es fühlt sich erlösend und richtig an.
»Bist du immer noch traurig wegen deinem Papa?«, fragt sie kaum hörbar. An meinem Kinn spüre ich ihre weichen Haare. Erst kann ich gar nicht sprechen. Nach einer Weile hat sich mein Atem jedoch wieder beruhigt. »Meine Mutter ist vor ein paar Monaten gestorben, und ich vermisse sie.«
Mia streichelt meinen Rücken. »Das tut mir leid.« Ich lächle unter Tränen. »Hör mal, ich sollte eher dich trösten.«
Mia zieht die Nase hoch. »Ach, ich glaube, wenn man traurig ist, ist es egal, wie alt man ist.« Wieder tauschen wir einen ernsten Blick. Als Papa damals starb, wusste ich, dass es meine Aufgabe war, Mama wieder froh zu machen. Ich nehme Mia noch einmal in die Arme. Dann greife ich zur Küchenrolle und reiße uns beiden je ein Stück ab. Wie in einer einstudierten Choreographie schneuzen wir uns die Nasen. Dabei lächeln wir uns an. Es ist das Lächeln, das man manchmal bei Bergsteigern am Gipfelkreuz sieht: müde, erschöpft, aber befreit. Und dann nehmen wir wieder die Messer und greifen in die Erdbeerschüssel.
»Kein Wunder, dass du nicht auf Klassenfahrt fahren willst«, beginne ich unser Gespräch wieder. Mia nickt.
»Sie haben mich in Papas letzter Nacht nicht mitgenommen. Ich habe mich nicht von ihm verabschiedet.«
Ich versuche sie zu trösten. »Sicher hat er gefühlt, dass du an ihn gedacht hast.« Mia sieht mich an wie eine sehr kluge Lehrerin einen sehr dummen Schüler. Ihr Seufzen klingt wie ein inneres Kopfschütteln und erinnert mich an ihre Mutter. »Nein! Papa war immer nur Papa, wenn ich bei ihm war. Ich glaube, er hätte sogar vergessen, dass es mich gibt, wenn ich nicht bei ihm angerufen hätte.« Ich bin überwältigt von der Präzision ihrer Beobachtung. Doch ich stupse sie aufmunternd mit dem Ellbogen an. »Aber du weißt doch, dass er dich sehr lieb gehabt hat.«
Sie flüstert: »Ich wäre nur so gern bei ihm
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