Erdbeerkönigin
Faden wieder aufnimmt. Ich höre ihn murmeln: »Nur einmal, einmal nur hob sie den Blick …«
Seine Stimme verliert sich, und für einen Augenblick glaube ich fast, dass er eingeschlafen ist.
Doch dann richtet er sich wieder auf. »Frau Brandt?«
»Ich bin hier.«
»Daniel hat zu mir gesagt: ›Versprich mir, dass du weitermachst. Stirb nicht, bevor du das erlebt hast.‹« Er lässt sich wieder auf das Kissen sinken. »Das war, bevor sie ihn aus dem Zimmer geschoben haben. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen.« Er wendet den Kopf schnell ab. Aber ich sehe dennoch die Tränen, die über seine Wangen laufen.
Als ich aus dem Krankenhaus auf die Straße trete, habe ich das Gefühl, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein. Die Krebsstation ist ein Zwischenreich, in dem Angst und Hoffnungen die Patienten und Ärzte umgeben wie Schwerelosigkeit die Reisenden in einer Raumfähre.
Als hätte ich das Laufen gerade erst gelernt, gehe ich mit steifen Schritten Richtung Bushaltestelle. Autos hupen, Menschen sprechen in ihre Handys, ein Kind heult.
Mit jedem Schritt freue ich mich mehr auf das Abendessen bei Dr. Lenchen. Auf den Hering, die Gewürzgurken und das Leben.
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14 . Kapitel
Nenne etwas, das die meisten Leute vermutlich nicht über Dich wussten.
(Gesprächsstoff: Original)
Freitag, Tag 10
A n diesem Morgen gehe ich zum ersten Mal hinunter in den Keller und sehe mir Daniels Fahrrad an. An dem Schlüsselbrett habe ich nicht nur den Schlüssel zum Keller, sondern auch den für das Fahrradschloss gefunden. Der Keller ist aufgeräumt. Neben dem Fahrrad stehen ein alter Schrank und ein kleiner Marmortisch, aber sonst nichts von Wert. Daniel hat entweder vor seinem Tod bereits alles aufgeräumt, oder Hubertus hat hier schon Ordnung geschaffen.
Das Rad ist groß und rot. Es erinnert ein wenig an ein Rennrad, hat aber glücklicherweise dickere Räder. An den Rennlenker werde ich mich gewöhnen müssen. Ich nehme es mit nach oben und schließe es vor der Tür an den Zaun. Als ich meine Hände wasche, klingelt es an der Wohnungstür. Es sind Alexandra und Mia.
Während ich Alexandra umarme, drängelt sich Mia nach einem kurzen Gruß an mir vorbei und verschwindet in »ihrem Zimmer«. Wir zucken zusammen, als sie die Tür hinter sich zuknallt.
Alexandra zuckt resigniert mit den Achseln. »Es ist für uns alle eine schwere Zeit.« Sie klingt müde, aber auch sehr freundlich, und ich bin ihr dankbar für die Worte, mit denen sie mich, die Außenseiterin, in die Trauer um Daniel einschließt. Jetzt versucht sie sogar ein aufmunterndes Lächeln. Doch es will ihr nicht gelingen. Sie ist blass und hat tiefe Ringe unter den Augen. Ihr Gesicht wirkt wie ausgewaschen, als ob die Tränen jeden anderen Ausdruck als Traurigkeit weggespült hätten.
»Kaffee?«, frage ich. Alexandra nickt. Wir beide wissen, dass es nicht um Kaffee geht, sondern um Trost. Trost, den ich in Wahrheit nicht geben kann.
Als wir am Küchentisch sitzen, stützt Alexandra das Kinn in die Hände. Sie sieht mir beim Hantieren zu und sagt: »Es ist mir sehr unangenehm, dich zu belästigen, aber kann ich Mia bei dir lassen? Alle anderen, die ich hätte fragen können, waren nicht da. Meine Eltern sind im Urlaub, Billie muss arbeiten, und Mias Klasse ist auf Klassenfahrt.«
»Du belästigst mich doch nicht. Ich habe ja Zeit«, sage ich schnell und frage dann: »Wieso ist Mia nicht mit ihrer Klasse gefahren?«
Alexandra seufzt. »Offiziell, weil sie sich den Fuß verknackst hat.« Sie fängt meinen überraschten Blick auf, denn mir ist nicht aufgefallen, dass Mia humpelt. »Ihr fehlt nichts. Sie wollte nur nicht mit.«
Ich stelle die Kaffeedose zurück auf das Regal. »Ich kann verstehen, dass ihr momentan nicht danach ist, mit kreischenden Mitschülern unterwegs zu sein.«
»Vielleicht hast du recht«, gibt Alexandra zu. »Aber ich hatte gehofft, dass die Fahrt sie ein wenig ablenkt.« Aus Mias Zimmer dringt das charakteristische »Torööööö« von Benjamin Blümchen.
Alexandra seufzt. »Zu Hause hat sie auch wieder damit angefangen, ihre alten Kinderhörspiele zu hören.«
»Ist das neu, dass sie nicht allein zu Hause bleiben will?«
Alexandra presst die Lippen zusammen und sucht nach Worten. »Erst seit Daniels Tod.« Sie wischt sich über die Augen. »An dem Abend, als Daniel starb, bin ich mit Hubertus ins Krankenhaus gefahren. Er hatte mich darum gebeten.« Sie fährt mit einem bitteren Lächeln fort: »Ich glaube nicht,
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