Erdbeerkönigin
Lieblingsgerichte und eigene Rezepte notiert.«
Ich blättere durch das Heft. Daniels Handschrift, die ich nur von den nicht abgeschickten Briefen an mich kenne, wirkt hier deutlich erwachsener – schwungvoll, gut leserlich, ordentlich. Bei einem Rezept bleibe ich hängen. »Erdbeerkuchen.« Ausgerechnet! Mama hat jedes Jahr mit mir Erdbeerkuchen gebacken, als ich Kind war – das war im Frühsommer ein Ritual bei uns. Sogar noch, als ich Erdbeerkönigin geworden war. Am Freitag haben wir gebacken, und am Wochenende gab es dann Erdbeerkuchen zum Kaffee. Als Benny noch jünger war und Mama noch lebte, habe ich diese Tradition fortgeführt. Manchmal war Mama sogar dabei. In diesem Jahr habe ich keinen Erdbeerkuchen gebacken. Mir war nicht danach. Mama ist tot, Benny ist groß. Und in meinem Erdbeerbeet waren die Früchte noch nicht reif, bevor ich nach Hamburg fuhr.
Nachdenklich lese ich das Rezept. Alexandra guckt mir über die Schulter. »Ach, Daniels berühmter Erdbeerkuchen!«
»Berühmt?«
Alexandra nickt. »Daniel liebte Erdbeeren. Er hat immer gesagt, dass mit den Erdbeeren der Sommer kommt. Er hat sich jedes Jahr auf die Erdbeerzeit gefreut und …« Sie unterbricht sich unvermittelt und sieht mich wachsam an. Langsam fragt sie: »Wusste Daniel, dass du mal Erdbeerkönigin warst? Oder war das nach eurer Begegnung?« Ich antworte nicht sofort, aber mir ist ein ähnlicher Gedanke gekommen. Vielleicht hat Daniel jedes Mal an mich gedacht. Wieder steht sein Gesicht vor mir, und ich höre seine Stimme: »Ich wollte schon immer eine Königin küssen.« Alexandra starrt mich weiterhin an. Sie wirkt getroffen und verstimmt. Missmut fliegt wie ein Schatten über ihr verheultes Gesicht. Ist sie eifersüchtig? Schnell schüttle ich den Kopf. »Ja, er wusste davon, ich hab es erwähnt, aber ich glaube nicht, dass er das wichtig oder interessant fand. Er hielt es sicher nur für irgendein provinzielles Ritual.«
Obwohl Alexandra nickt, wird die Stimmung zwischen uns wie durch einen kühlen Lufthauch frostig.
In dem Bemühen, wieder in Einklang mit ihr zu kommen, schlage ich vor: »Ich könnte doch mit Mia einen Erdbeerkuchen backen. Unten auf dem Markt gibt es welche zu kaufen.« Aber Alexandra zuckt nur mit den Schultern. Matt sagt sie: »Vielleicht ist das eine nette Idee.« Dann verabschiedet sie sich hastig von mir. Ich bleibe ratlos in der Küche zurück und schaue in das Rezeptbuch, während sie noch Mia Bescheid sagt. Dann klappt die Tür. Sie ist weg.
Und so gehen Mia und ich gemeinsam auf den Markt. Das Mädchen ist schweigsam und ernst und bewegt sich vorsichtig, als hätte es Furcht, über etwas zu stolpern oder sich an etwas zu stoßen. Aber das Vorhaben, einen Kuchen zu backen, gefällt ihr. Gemeinsam haben wir die Speisekammer durchstöbert und Mehl und Backpulver gefunden. Eier und Butter habe ich noch im Kühlschrank. Sogar Tortenguss und Speisestärke sind Mias aufmerksamen Augen nicht entgangen. »Hoffentlich ist das alles noch gut«, sagt sie sorgenvoll, und erst als die Stempel für das Verfallsdatum sie beruhigt haben, legt sie die Zutaten zu den anderen auf den Küchentisch. Sie liest aus dem Rezept vor: »Wir brauchen noch Puderzucker, Vanillinzucker, gemahlene Haselnüsse, Erdbeerkonfitüre und vor allem Erdbeeren!«
Wenig später schleppen wir unsere Einkäufe in die Küche. Mia schaltet das Küchenradio an. »Musik muss sein!« Ich gebe die Zutaten nach Daniels Rezept in eine Schüssel, Mia darf den Teig quirlen.
»Teig auf einem Backblech ausrollen, zwölf Minuten bei 180 ° backen«, liest Mia weiter vor. Während der Teig im Ofen ist, beginnen wir die Erdbeeren zu putzen.
Mia stellt die Musik im Küchenradio lauter. »Kennst du das?«
»Irgendeine Hiphop-Musik.«
Mia lacht. »Von wegen! Das ist die beste Band der Welt.« Sie nennt einen englischen Namen, den auch Benny schon mal erwähnt hat. Ich erinnere mich. »Stimmt, Benny war letztes Jahr in Berlin auf einem Konzert von denen.«
Mia ist begeistert. »Echt? Das würde Mama mir nie erlauben.«
Ich lecke meinen Zeigefinger ab. »Du musst nur abwarten. Wenn du sechzehn bist, darfst du das auch.«
Mia schüttelt ärgerlich den Kopf. »Bis ich sechzehn bin, bin ich uralt.«
Wir müssen beide lachen und schnippeln weiter Erdbeeren. »Das habe ich manchmal mit Papa gemacht«, sagt Mia.
»Und ich immer mit meiner Mutter.«
»Mochte dein Vater nicht backen?«
Ich denke nach. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals mit
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