Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
Bochum. Ich bin im Uni-Center, Wohnheim Q100, es ist das optimale Versteck! Kein Name an den Türen stimmt. Ein Terrorist von 9/11 hat hier gelebt und im Keller seine Wäsche gewaschen. Was kann es Sichereres geben? Kommt hierher! Die Q100 ist ein vierzehn Stockwerke hoher Untergrund! Yannick ist ebenfalls in diesem Hochhaus und war niemals in dem meiner Mutter. Ich habe auch einen neuen Freund am Start, er wird Dir gefallen, denn er ist besessen. Bitte umarme Caterina von mir und sage ihr, wie sehr ich bereue, dass sie glauben musste, ich vergnüge mich in Kalifornien wie ein Geschiedener, der endlich seine Freiheit genießt.
Ich will die Antwort gerade absenden, als mir einfällt, wie es aussehen muss, wenn Hartmut Caterina von meiner Lüge erzählt und sie womöglich erst danach die Geschichte meines heldenhaften Einsatzes als ehrenamtlicher Therapeut der Real Life Assistance liest. Diese Mail ist in ihrer Box, so oder so, und kein Hartmut dieser Welt kann sie dort heimlich löschen.
PS: Bitte sag Caterina, dass meine letzte Post aus Los Angeles im Grunde die Wahrheit war, auch wenn mein »Patient« hier im Wohnheim sitzt. Ich erkläre ihr das alles, wenn Ihr da seid, ja? Oder meinst Du, es ist irgendwie möglich, dass sie vor der Rückreise nicht mehr in ihre Post sieht???
Würdeloser Winsler, denke ich, und sende es ab.
> Ich
< Hartmut
Die Festivalsynapse
26. 03. 2011
33° 8′ 54.30″ N, 11° 33′ 23.26″ E
Ich habe kaum geschlafen in dem kleinen Bettenschlauch, der Koje des großen Piraten. Sogar die Handys haben wir ausgeschaltet. Wer weiß, ob Hamadis Männer nicht abgewartet haben bis zum späten Abend, als Pizzatheke und Kaffeebar nur noch wenige Menschen beherbergten und sich Stille über die Grenze legte? Wer weiß, ob sie nicht gerade dann draußen herumgeschlichen wären, die Toiletten geöffnet und in dem Moment ein Bimmeln hinter der Tür ohne Klinke gehört hätten?
Nun ist es Morgen und »die Luft rein«, wie Khaled und Bilel bestätigen. Neuer Tag, neues Glück. Für uns und die anderen Flüchtigen, die bereits wieder von Libyen hereinströmen, als ich mit einem Kaffeebecher in der Hand vor die Tür trete. Der Automat hinter der Theke spuckt die braune Brühe in exakt die gleichen Becher wie an deutschen Autobahnen. Neben dem Gerät stapeln sich bis an die Decke Kartons mit TUC-Keksen.
Draußen blendet mich die Sonne. Rahime, Caterina und Khaled besprechen letzte Dinge mit Bilel, aber mich treibt es vor die Tür, denn ich muss endlich sehen, was ich gestern in der Hast nur wie einen Tagtraum wahrnahm. Ich schalte mein Telefon wieder ein und lese, dass mein bester Freund die ganze Zeit gelogen hat und niemals in Kalifornien war. Dafür kann er uns sofort ein Versteck bieten. Er hockt im Studentenwohnheim in Bochum! Ich weiß nicht, was ich denken soll. Wir haben uns gegenseitig angelogen. Er bittet mich darum, Caterina am Lesen seiner letzten Mail zu hindern. Hat er etwa Angst, sie könne ihm das alles so übelnehmen? Die beiden gehören doch zusammen, zwei Endloszukunftsfelder. Ich antworte ihm kurz und knapp, da mein Blick nicht auf dem Display, sondern in der Welt sein will. Ich stehe erst seit ein paar Minuten hier draußen und habe bereits seltsam gute Laune. Ich weiß nicht, warum, aber »die Luft« ist wirklich gerade »rein« für mich. Ich atme so frei, als hätte mich irgendetwas gedankengedopt.
Ein Bus hält quietschend neben den Zäunen und pustet Pressluft aus. An Sperrzäunen steht eine lange Reihe Dixiklos. Das aufgeregte Gemurmel Tausender Menschen wird hier und da durchsetzt von Musik. Arabischer Pop und Hip-Hop aus einem alten Kassettenrekorder. Ein Infostand der Organisation Islamic Relief bietet Flugblätter feil. Stolz flattert das Logo im Wind, Faith inspired action steht darunter. Ein Pressefotograf mit laminiertem Ausweis um den Hals wird von ein paar libyschen Männern bedrängt. »Gaddafi worse than Hitler!«, palavern sie und zeigen auf das riesige Grenztor, durch das sie es in die sichere Zone geschafft haben. »Worse than Hitler!« Einer spuckt auf den Boden. Die Schwarzafrikaner, die mit den alten Bussen oder gar zu Fuß als Flüchtlinge die ersten Schritte auf tunesischem Boden machen, sind nicht so erregt. Im Gegenteil. Sie tragen große Plastiktüten oder ziehen Trolleys über den Asphalt. Das Rattern der Hartgummiräder erinnert mich an die Stimmung auf Flughäfen. Eine Gruppe trägt zerschlissene Rucksäcke auf den Schultern und Turnschuhe an den
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