Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
Füßen. Der Adidas-Aufdruck ist längst abgerieben, nur noch ein a hängt wie eine Hautschuppe herunter. Die Menschen sind erleichtert und froh, am Ziel zu sein. Sie strahlen. Ist es ihre gute Laune, die mich so ansteckt, oder was ist das für ein seltsames Hochgefühl? Ausgerechnet hier, inmitten von lauter Not und Elend?
»Uganda!«, sagt ein Mann neben mir, deutet auf die Trolley-Zieher und macht mit Zeige- und Mittelfinger laufende Beine nach. Ich nehme all meine Erinnerungen an den Diercke-Atlas aus dem Erdkunde-Unterricht zusammen und öffne innerlich die Karte Afrikas. Uganda … von hier aus betrachtet kommt erst mal Libyen, das Spielfeld Gaddafis. Es klingt nach nicht viel, nach flachen Häusern, alten Reifen und Tankstellen der OiLibya, an denen die Schwarzhändler ihre Pick-ups füllen. Aber das Land ist riesig, so groß wie Deutschland, Benelux, Frankreich und Spanien zusammen. Unter Libyen folgt der Tschad, noch mal so lang wie Libyen breit. Dann Zentralafrika … Berge, Steppe, Wildtiere. Und selbst dann, nach all den Hügeln und Löwen und Wasserlöchern, kommt immer noch nicht Uganda, sondern ein weites Stück lang die Republik Kongo mit den größten erhaltenen Regenwaldgebieten des Kontinents. Ein Dschungel, so lang wie die Strecke von Kiel nach Paris. Erst dann Uganda, das Land, wo diese Menschen herkommen. Zu Fuß, wie der Mann neben mir mit seinen Fingern andeutet. »LRA«, sagt er, und seine Hände zittern, während er eine Zigarette dreht. Er entblößt gelbe Zähne, als er das Blättchen anleckt. »Lord’s Resistance Army«, sagt er, so langsam und deutlich, wie er kann. Er spricht eigentlich kein Englisch, aber den Begriff hat er sich gemerkt. Er steckt die Zigarette an, zieht daran, lässt sie im Mundwinkel hängen und simuliert mit den Händen ein Maschinengewehr. Er presst die Augen zusammen, hustet, senkt den Kopf, klopft mir auf die Schulter und zieht davon, heiser röchelnd wie einer, der sich sagt: Junge, du weißt nichts vom Leben.
Zu Fuß … durch den Kongo, Zentralafrika, Tschad und Libyen. So weit wie viermal quer durch Europa. Monate und Wochen. Wie muss sich das anfühlen, nach Millionen von Schritten und Bildern im Kopf schließlich hier auf diesem Vorplatz anzukommen und das erste Mal ausatmen zu können, in der freien Welt? Ich wollte zu Fuß nach Sibirien und bin eineinhalb Dörfer hinter der Neiße schon in ein Auto gestiegen. Doch selbst wenn ich die sechstausend Kilometer nach Ensomheden absolviert hätte, dann, um das Nichts zu suchen. Die Leute mit den Rucksäcken sind durch einen halben Kontinent gelaufen, um ein neues Leben zu finden.
Der Fotograf knipst die Libyer, die ihn bedrängen. Der alte Kassettenrekorder, der eben Hip-Hop gespielt hat, eiert nun tatsächlich einen Song von Linkin Park zwischen die Klos. Ich höre die Akkorde, und mir wird schlagartig klar, welcher Art das Gute-Laune-Doping ist, das mich überfallen hat. Diese Grenzstation hier erinnert mich an ein Festival! Betriebsames Gewusel, Dixiklos, Infostände, lärmende Radios … mein westlicher Geist kann nicht anders, als bei diesen Bildern das Gefühl freudiger Unruhe auszulösen, das man empfindet, wenn man am dritten Tag ungeduscht aus dem Zelt kriecht. Mein Gehirn kann keine anderen als diese Gefühle feuern; es hat halt nur Festivalsynapsen auf Lager und noch keine Botenstoffe für Flüchtlingslager entwickelt. Ich schäme mich.
Khaled erscheint hinter mir mit den Frauen und ruft entsetzt: »Nein!«
Ich folge seinem Blick und sehe Houssen, der lächelnd neben unserem neuen Tarnfahrzeug steht – keinem Landrover, sondern einem kleinen VW Beetle in Animateurhemdgelb.
Wir fahren mit dem kleinen Wagen die Straße hinunter, die wir gekommen sind. Khaled hat mir genauer erklärt, was es mit der Lord’s Resistance Army ist auf sich hat. Rahime, die jetzt Juliette Boullée heißt, sitzt hinter mir. Sie trägt nun eine humorlose, blonde Kurzhaarfrisur. Sie schweigt. Wir müssen sie alle paar Minuten mit Juliette ansprechen, damit jeder sich daran gewöhnt. Um uns herum sehe ich sie nun mit offenen Augen, die endlosen Reihen des Flüchtlingslagers Choucha. Bis zum Horizont ein Meer aus Schlauchzelten. An den Zäunen zu beiden Seiten der Straße hängen Stofftransparente. Große Schriftzüge der Hilfsorganisationen UNHCR und Red Crescent, aber auch Flaggen der Heimatländer, aus denen die Flüchtlinge angereist sind. Es scheint ganze »Stadtviertel« zu geben. Ich erkenne die Farben des
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