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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Holdstock
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Elspeth auf, wie ähnlich sie sich waren – beide alt, ja greisenhaft, beide mager –, ihre tiefliegenden Augen, ihr ganzer Gesichtsausdruck legten ein greifbares Zeugnis ihrer speziellen psychologischen Fähigkeiten ab. Ashka verlor sich, wie immer, in seiner bauschigen Robe. Der Seher, ein schmaler, weißpelziger Greis, war jetzt in breite Streifen Schwarzflüglerhaut eingewickelt, die Beine, Arme und zum Teil auch den Oberleib verdeckten.
    Ashka, der Elspeth immer noch anstarrte, fuhr fort: „Das ching verlangt es auch. Ich habe es befragt, und es sagt das gleiche: Sie sollen unser Angebot annehmen.“
    Irgendwo, man konnte es nicht sehen, jammerte eine Frau, vielleicht bestattete sie das Haupt ihres Sohnes, der vielleicht noch am Leben wäre, wenn man, wie es das Ritual verlangte, vorher den Seher befragt hätte.

 
Rückzug

 
6
 
    Vor einigen Stunden, gleich nachdem er Elspeth am Flusse alleingelassen hatte, war Peter Ashka an Bord zurückgekehrt, nachdenklich und erregt, besorgt und doch höchst interessiert. Dienstlich lag nichts für ihn vor. Das wunderte ihn zwar, doch es bedeutete zumindest, daß er etwas Zeit zu ungestörtem Nachdenken hatte. Er suchte seine kleine Kabine auf, schaltete das Licht ab und trat an das große Fenster. Draußen war es trübe, und die schwere Wolkendecke machte alles noch düsterer. Schon wurden auf der Erdbastei Fackeln angezündet, und ein Weilchen beobachtete er die geschäftige Tätigkeit.
    Der Grund für seine Betroffenheit war Elspeth Mueller und das, was sie erzählt hatte. Es war vielleicht nur eine Laune des Schicksals, mit der Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, die sie mit dem ching auseinandergebracht hatte; doch etwas Bestimmtes an ihrem Bericht ging ihm immer noch im Kopf herum. Er hatte ihr gesagt, daß er dergleichen noch nie gehört hätte; doch jetzt, als er sich alle Einzelheiten des Gesprächs ins Gedächtnis rief, wurde ihm klar, daß er nicht die Wahrheit gesagt und das auch sofort gemerkt hatte.
    Aber wo? Und warum?
    Es war ein Schnipsel Information, der nicht ans Licht kommen und sich identifizieren wollte. Irgendwann in all den Jahren seines Lebens hatte er gelesen oder gehört, daß eine solche bizarre Veränderung in den ching -Mensch-Beziehungen eingetreten war, und es war ihm so bemerkenswert erschienen, daß die Tatsache noch irgendwo in seinem Gehirn spukte. Aber sein Gedächtnis, zwar nicht so zerbrechlich wie sein Besitzer, doch vielleicht ein bißchen rostig, wollte sich einfach nicht so benehmen wie es sich gehörte. Es gab die Information, nach der er suchte, nicht frei.
    Welch ein heimtückischer Freund ist das Gedächtnis, sinnierte er, daß es abwartet, bis man alt und hilflos ist, und dann erst seine neckenden Streiche spielt!
    Sein nachlassendes Gedächtnis machte ihm am meisten Angst; Alter und Gebrechlichkeit störten ihn nicht weiter, nicht einmal, wenn er mit jungen Männern und Frauen zusammenkam, ihre Vitalität und Energie beobachtete und geschickt die Gefühls- und Verantwortungslosigkeit ihrer jugendlichen Konversation abbog, die ihn so oft verletzte, obwohl sie es ihm ja nur leichter machen wollten. Nein, es war nicht die physische Beeinträchtigung, unter der er litt, auch nicht die geistige, denn an Schnelligkeit des Denkens und allgemeiner Auffassungsfähigkeit übertraf er jeden an Bord – das mußte er auch, denn er war der Rationalist. Doch das Gedächtnis, ein Geistesgebiet für sich (wenn es auch nicht den Anschein hatte), eine von den anderen wesentlichen Qualitäten des Geistes getrennte Einheit – hier fühlte er den Stich der Eifersucht, ein unbeherrschtes Irritiertsein, wenn er merkte, daß er sich an Geschehnisse und Orte um die Lebensmitte nicht erinnern konnte, an die sich jüngere ganz klar erinnerten, obwohl sie zu der Zeit noch Kinder gewesen waren.
    Was er an Gedächtnis noch übrigbehielt (und das war eine ganze Menge), hielt er wert wie einen Schatz. Der natürliche Abbau forderte seinen Zoll. Nur allzuoft kam es vor, daß er an einen zauberischen Augenblick seiner Jugend dachte, an ein Mädchen vielleicht oder an einen Freund, an Menschen, die er herzlich geliebt hatte, und der Name wollte nicht kommen. Das Gesicht war da, eine bestimmte Körperhaltung, der Klang der Stimme, vielleicht der Geruch des Schnees oder eines heißen, stillen Sommers, trockenes Gras, durch das Blätterdach schimmerndes Sonnenlicht. Eine einzelne Szene, ein paar Sekunden eines Erlebnisses, das Stunden gedauert

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