Erdwind
hatte, ihm aber zu einer Essenz geronnen war. Wie ein Symbol, wie das simple Ornament, das soviel bedeuten kann, das nackte Zeichen, das eine Welt an Sinngehalt umfaßt, jedoch viel leichter in unserer auf Chiffren eingestellten Hirnrinde gespeichert werden kann.
Wie lästig, daß seine Lebensjahre auf bloße Minuten zusammengeschrumpft waren! Jede Minute mit Bedeutung vollgestopft, gewiß; doch im ganzen nur eine so unbedeutende Zeitspanne, daß er sich fragen mußte, was er mit all den anderen Stunden und Tagen gemacht hatte. Wie oft hatte er sich gewünscht, Zeit für dieses oder jenes zu haben, hier einen Planeten, dort eine Stadt aufzusuchen, und wie oft hatte die Zeit ihn besiegt; und doch … wieviel Zeit hatte er vergeudet beim Suchen nach dem inneren Frieden, der äußeren Befriedigung, nach der wahren Tiefe des ewigen Meeres der Zeit und der Wandlungen!
Gedächtnis. Es war der Schlüssel zu seiner Vergangenheit, und es schloß ihm nur einen geringen Teil der Türen und Fenster auf; es schränkte seinen Rückblick ein und schien mit einem eigenen Willen zu operieren. Das nahm er tief und bitterlich übel. Seine Eifersucht auf die Kraft und Zielsicherheit seines Jugendgedächtnisses war lediglich ein Symptom dieses Ressentiments. Schon seit langem hatte sich Peter Ashka in sich selbst zurückgezogen und sich auf soziale Isolation eingestellt. Er war sich darüber klargeworden, daß er als Rationalist, der er nun einmal war, dazu verurteilt war, jedermanns und niemands Freund zu sein. Jeder schätzte seine Gesellschaft, keiner wollte Peter Ashka seinen Freund nennen – jeder Rationalist war Freund seiner ganzen Rasse. Doch niemand, nicht einmal Gorstein, war als Mensch sein wahrer Freund. Niemand, außer seinem Gedächtnis und dem ching; und beide, so tröstlich sie auch sein mochten, hatten ihre Grenzen.
Der Gedanke, sogar solche begrenzten Freunde zu verlieren, die Möglichkeit, daß diese Beziehungen durch etwas auf dem Aeran noch stärker abgebaut werden könnten, erfüllte den schmächtigen Asiaten mit großer Furcht. Er hatte schon soviel verloren, er konnte es nicht ertragen, noch mehr zu verlieren.
Er hatte gesagt, wenn er seine Freundschaft mit dem ching verlöre, könnte er nichts Besseres tun, als sich umzubringen. Laut und erschreckend tönten seine eigenen Worte in seinem Innern. Er mußte die Augen schließen bei dem Gedanken; doch sofort war das Vertrauen zum ching wieder auf dem Plan: sieben Monate. Sein Tod würde in sieben Monaten eintreten, und es würde ein friedlicher Tod sein. Selbstmord war kein friedlicher Tod. Dank sei dem tao, dachte er, Dank sei dem tao, daß ich es gewagt habe zu fragen.
Sogleich besserte sich seine Stimmung. Er öffnete ein Wandschränkchen und nahm einen seiner Schätze heraus, die Flachfotografie einer Gruppe junger Männer. Das Bild war schon ganz blau vor Alter; die Ecken waren trotz des harten Materials, auf das die Fotografie aufgepreßt war, zerknittert und eingerissen; aber die zehn Männer waren so lebendig wie eh und je, sitzend oder stehend schauten sie aus der Höhe von fünf Dekaden auf Ashka hernieder. Dieser Blonde am Flügel, der so breit grinste, daß es nur ein falsches Grinsen sein konnte, und doch … nicht falsch … lebhafte Augen, modische Kleidung, die Haltung eines Mannes von bestem innerem Gleichgewicht. Er trug ein Abzeichen mit dem ching-Hexagramm; es war Hexagramm 61, ‚Innere Wahrheit’. Die übrigen neun trugen andere Abzeichen. Da war ‚Stillhalten’, ein ernster Mann; sein Name war jetzt vergessen, doch die Gespräche mit ihm waren noch … noch in großen Teilen gegenwärtig. (Ashka runzelte die Stirn.)
Und da war sein sehr guter Freund … wer? Der Name war ihm auch entfallen, doch das Abzeichen wußte Ashka noch: Hexagramm 21, ‚Das Durchbeißen’. Diese Abzeichen waren natürlich ein Ulk, Spitznamen für die Teilnehmer an der Rationalisten-Konferenz, zu der diese jungen Männer als die frisch graduierten männlichen Rationalisten des Jahres geladen waren – später würden sie sich in die Einsamkeit zurückziehen … für wie viele Jahre? Waren es wirklich zehn gewesen? Sie kamen ihm vor wie zehn Wochen.
Er drehte das Foto um und spürte die Atmosphäre dieser Konferenz in seinem Blut, das lärmvolle Stimmengewirr, den Geruch der Tische aus Kiefernholz, das irritierende nächtliche Rascheln der grünen Vorhänge … und er las die Worte auf der Rückseite des Bildes: ‚Neue Rekruten, Jahrgang 3577. Die Carnuten.
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