Erdwind
tiefen Rachen der Orakelhöhle.
Namen erfüllten seinen Kopf, aus der Vergangenheit auftauchende Namen: Lourdes, Wunschbrunnen, das Orakel von Delphi … die Höhlen und Löcher, aus denen die uralten Prophezeiungen vergessener Kulturen aufgestiegen waren, die Spalten und Risse im körnigen Fleisch der Mutter Erde, deren Angst- und Schmerzensschreie sich zu einer klaren und erschreckenden Vision der Zukunft geläutert hatten – Tod, Sieg und Niederlage im Kriege, Gewinnen und Verlieren von Frauen, Söhnen, Töchtern. Hatten auch sie, diese dunklen Orakel und magischen Orte, den Atem der Welt ausgehaucht? Hatten sie laut mit eigenem Mund gesprochen oder durch den Geist derer, die fragten? Hatten sie wirklich funktioniert – oder waren sie nur phantasievolle Erfindungen von Menschen, die vor dem Kommenden so viel Angst hatten, daß sie sich danach sehnten, ihr Schicksal im voraus zu wissen? Und hatten diese Menschen ihr Schicksal, wenn sie es erfahren hatten, auch auf sich genommen?
Ashka hatte noch nie ein Erdorakel gesehen; er kannte dergleichen nur aus Büchern und hatte sie immer für ein Stück jener glanzvollen Phantasien von Göttern, Hsien, Drachen, Mittelerde und allen jenen mythischen Wesen gehalten, deren üble Launen das Rumpeln und Feuer- oder Wasserspucken aus der verborgenen Welt unter der Haut des Landes verursachten. Während er auf den Mund des Aeran starrte, fühlte er in seinem Innern den Anhauch der Aeran-Kälte, ein sich Regen des Bewußtseins, das er noch nie gefühlt hatte; ein ungesehenes, ungewußtes Wissen sammelte sich in ihm wie in einem Brennpunkt, reichte bis in den Kern seiner Seele, und er begann sich zu fragen, ob ‚Phantasie’ nicht bloß ein grobes, durch nichts gerechtfertigtes Etikett sei.
Er hatte sein Leben in Einheit mit dem tao gelebt, hatte nach oben geblickt, hinaus in das gigantische Universum; jetzt begriff er, wieviel er versäumt hatte, weil er nicht nach innen, nach unten geblickt hatte, zur Erde, auf den freundlichen, weiblichen Schutz von Stein und Blut, Erde und Gebein …
So nahe, so bewußt der Welt unter ihm – und doch so oberflächlich! Wie schnell der vergängliche Erdboden vergessen war in dem Streben, die Leere auszumessen!
„Es ist gefährlich, hier zu stehen und nicht zu fragen“, sagte Iondai, und seine Stimme war wie ein Traum aus irgendeiner Unwirklichkeit, der erst Bedeutung gewann, als die Worte klangen, widerhallten und schließlich Ashkas Ohr erreichten.
„Gefährlich?“
„Die Frage!“ sagte Iondai. „Du wirst das Orakel auch befragen müssen.“
Ashka tauchte aus seiner Verzauberung auf und sah sich um. Er sah, was diese Kraft tatsächlich war, und zum erstenmal nahm er auch deren unmittelbare Umgebung sowohl mit dem Verstand als auch mit den Sinnesorganen auf.
Eine weite Höhle, deren hohe Decke längst eingestürzt war und jetzt in Stücken lag, ein Skelett aus glatten Steinplatten und scharfgezackten Streben. Das Wasser aus dem Gang floß zwischen den Steinen dahin, schliff die unteren Kanten ab, rann durch das Labyrinth der zahlreichen Bruchstücke, rann darüber und darunter, verband den toten Stein mit dem lebendigen Blut und Atem des Orakels. Auf vielen der glatten Steine waren Symbole grob und primitiv eingehauen, rauh, ohne Nachpolieren – schlängelnde, verwobene Linien, Spiralen, die in ihrer unfachmännischen Ausführung so häßlich waren, wie die drei Doppelspiralen des Erdwind-Symbols in der Feuer-Halle in ihrer Konzentration und Selbstbewußtheit schön waren.
Da Intuition Ashkas größte Begabung war, brauchte er über die Grobschlächtigkeit der Symbole nicht einmal nachzudenken: Sie waren in der Frühzeit der neuen Gesellschaft entstanden, die sich auf dem Aeran gebildet hatte. Die Künstler der ersten und vielleicht auch der zweiten Generation hatten sich eifrigst bemüht, ihre Kunst Steinen einzuimpfen, die nicht mehr vom lebendigen tao durchströmt waren. Die toten Felsbrocken hatten etwas Melancholisches; sie waren Steine, die nicht mehr in den Boden bissen, nicht mehr diesen bizarren, schwingenden Widerhall der Energie in sich trugen, die über ihre Außenflächen strömte. Es war vielleicht als Auferstehung eines schreckenserfüllten Respekts für diesen Teil der Welt gedacht, wo die Steine so anders waren, wo das magische Gefühl der Einheit und des Strömens nicht mehr vorhanden war.
Die steilen Wände der Höhle lebten noch, doch war zweifellos die Angst der Grund gewesen, daß sie unberührt
Weitere Kostenlose Bücher