Erdwind
Hemisphäre für geometrische Assoziationen und Symbole zuständig. Doch diese Dinge hatten, anders als das Gedächtnis, ihre Analogie im Cerebellum – sogar die Sprache! Und obwohl die Cerebralrinde ständig aktiv war, gab es wenig – genaugenommen nichts außer dem Gedächtnis –, das nicht aufgeteilt wurde zwischen dem höheren Hirn mit seiner komplexen Zellstruktur und dem niederen Hirn mit seinen fundamentaleren Methoden des Aufnehmens und Assoziierens von Informationen.
So vieles war im Dunkeln – so vieles war leer, blind wie die Nebelwand, undefinierbar und doch mit einer feinen Andeutung von Formen und Gesichtern, als sei das verloren geglaubte Gedächtnis noch da, jedoch tief unten, weit außer Reichweite, jenseits des Zugriffs sogar der siebenten Ebene seines Geistes, des tiefen Unbewußten. So vieles in dem Gefängnis der chemischen Codes in seinem Hirn – alle diese Gesichter, Zeiten, Städte, Ereignisse waren nun hinausgestoßen in eine unbekannte, ewige, höllische Finsternis, waren gelöscht, so daß die Bänder leer und bereit zu neuem Empfang waren, in einer neuen Welt, in einer neuen Zeit, in einem neuen Schicksal.
Er war unerklärlich erregt, sein Geist hinkte hinter seinem Körper her, einer großen spontanen Realisation entgegen. Und dann sah er deutlich, was es war.
Prädestination.
Natürlich! Deswegen konnte das ching nicht richtig arbeiten, deshalb fand es auf dem Aeran keine Handhabe. Vielleicht war es also nicht nur der Benutzer, der etwas falsch machte – vielleicht hatte er recht gehabt, als er spürte, daß das ching durcheinander war, und hatte sich nur darin geirrt, daß er die Störung für Eifersucht gehalten hatte. Das ching, das Tarot, die anderen obskuren Orakel, die er gelegentlich benutzte – alle waren sie für ein Universum gedacht, in dem das Schicksal nicht prädestiniert ist, sondern wandelbar, machbar, wo Mensch und Schicksal ein System ständiger Wechselwirkungen, eine bewegliche Wellenfront bilden, die mit jeder getroffenen Entscheidung ihre Position ändert. Dort gab es so etwas wie Voraussage nicht, nur Wahrscheinlichkeit. Niemand konnte die Zukunft sehen, nur eine künftige Möglichkeit, weil es auf der Erde, in dem weiten Universum der normalen Zeit die Zukunft erst dann gab, wenn sie da war … das ching konnte in diese Leere schauen und die Trends erkennen. Es sah keine Tatsächlichkeiten. Der wahrscheinliche Trend konnte erfaßt werden, indem man sich dem tao beugte; aber nichts war sicher, ehe es nicht sicher in der Vergangenheit beschlossen lag.
Doch auf dem Aeran – war die Zukunft allgegenwärtig. Auf einer Welt, in einem Universum, wo die Zeit auch nur mit einer Milliardstelsekunde oszillierte, war die Zukunft bereits prädestiniert, da sie vorhanden war, bevor die Geschehnisse eintraten. Auf dem Aeran war das Schicksal absolut definiert, klar umrissen. Selbstverständlich konnte dort das Orakel absolute Voraussagen machen! Wie es das machte, spielte keine Rolle – sie benutzen ein Erd-Orakel, und der Geist des Fragenden fühlt den Puls der Zukunft – es hätte Iondai selbst sein können, der ganz wörtlich genommen die Zukunft sah; oder es hätte auch etwas anderes sein können, etwas viel Größeres als der Mensch – vielleicht das, was hinter dem Erdwind-Symbol lauerte … der Sänger des ‚Liedes der Erde’ persönlich? Ashka konnte es nicht wissen. Doch die Zukunft auf dem Aeran war prädestiniert. Niemand konnte der Zukunft entrinnen, denn auf dem Aeran war der Mensch Diener der Zeit; er trieb nicht nur hilflos auf ihrem Strom. Das ching konnte sehen, wie es immer gesehen hatte, doch es war bedeutungslos ohne die Veränderbarkeit. Was es vorher, ehe sie auf dem Aeran landeten, gesagt hatte, war vielleicht noch brauchbar; doch je länger sie hierblieben, um so weniger konnten sie effektiv im Einklang mit den Prophezeiungen des ching handeln, das ihr Leben und Handeln diktierte.
Er hatte Elspeths frühere Warnung in den Wind geschlagen, doch jetzt wußte er, daß sie absolut recht gehabt hatte.
Sie mußten herunter von dieser Welt. Und zwar schnell.
Er tauchte aus seinem reflektierenden Geisteszustand auf, sah sich um.
Hinter dem Nebel bewegte sich etwas. Sekundenlang war ihm das gedämpfte Geräusch rätselhaft – er starrte ins Weiße, das sich nun ein wenig lichtete, und versuchte zu begreifen, was er da eigentlich hörte. Als ihm klar wurde, daß sich ihm irgendein Tier näherte, dreht sich ihm der Magen um. In einen hungrigen
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