Erdwind
nur ein bißchen Sinn für Neues, so daß er tiefer und bedeutsamer über dieses Experiment nachgedacht hätte, das er damals so langweilig fand. Jetzt würde es ihm vielleicht weiterhelfen.
Aus seiner Gürteltasche zog er den kleinen, flachen Computer-Terminator, der ihn mit dem weitläufigen mnemosensorischen Akkumulations- und Analysezentrum des Raumschiffes verband. Er wickelte die Zuleitung ab, beugte sich über Bord des Floßes und stach die Terminatornadel in den moosigen Boden, immer tiefer, bis der Bildschirm lebendig aufleuchtete – ein Zeichen, daß er über den Erdstrom Kontakt bekommen hatte. Er richtete sich wieder auf und blickte in den Schirm, dann machte er seine Anfrage: „Definiere das Wesen der Zeit auf dem Planeten Erde.“
Ein kurzes, kaum bemerkbares gelbliches Aufflimmern der Mattscheibe, dann erschien ein dichtgedrängter Schriftblock: Entsprechend dem empirischen Befund hat die Zeit auf dem Planeten Erde den Charakter eines irreversiblen Kontinuums. Sie wird außerdem definiert als linear und konstant im Ablauf vergleichbar einer Wellenfront, die sich von der Vergangenheit auf die Zukunft hin bewegt. Es gibt keinen absoluten Standard der Zeit; die Definition bleibt axiomatisch und unbeweisbar und weist die Erdzeit als effizienten, jedoch lediglich für praktische Zwecke geeigneten Standard aus. Ashka verstand die Terminologie voll und ganz, was ihn befriedigte. Er löschte die Schrift auf dem Bildschirm und stellte eine neue Frage: „Was ist die Zeit auf dem Aeran?“
Jetzt kam die Antwort erst nach längerer Pause, und sie erregte Ashka, als er sie las, nicht so sehr des Inhalts wegen als wegen der Tatsache, daß die seelenlose Maschine auf dem Schiff über die Einzigartigkeit des Aeran längst Bescheid wußte, ihr Wissen jedoch nicht ohne die präzise Aufforderung eines menschlichen Operators von sich geben konnte:
Die Zeit auf dem Aeran und in dem ihn umgebenden Raum kann sinnvoll in der Terminologie der Erdzeit definiert werden, wenn die notwendigen relativistischen Ergänzungen vollzogen werden. Nach dieser Terminologie verhält sich die Aeran-Zeit oszillatorisch. Sie fluktuiert zyklisch um den normalen Zeitablauf. Die Amplitude einer Oszillation wird auf 0,02 Sekunden berechnet, die Frequenz auf 37,5 Hz. So einfach – so einzigartig und so zerstörerisch! Zwei Hundertstel einer Sekunde stehen zwischen mir und dem Bewußtsein meines Todes, dachte er. Zwei Hundertstel einer Sekunde entscheiden über alles und jedes: das ganz Große, das ganz Kleine – wie das Aufwinden einer Spirale, ein unbedeutender Punkt im Zentrum einer komplexen, weitläufigen Struktur … das unendlich Große nicht zu unterscheiden vom unendlich Kleinen – denn die Unendlichkeit hat keine Dimensionen; sie manifestiert sich als Raum und Zeit ausschließlich zum Vorteil derer, die sich bemühen, ihre Umwelt zu definieren.
Ich schweife ab … meine Gedanken flackern vor- und rückwärts, wie schlagende Vogelschwingen … wie Atemholen … der angehaltene Atem der Zeit, hatte Iondai gesagt … man atmet ein und hält den Atem ein Weilchen an; dann erst atmet man aus und bringt den Atemzyklus normal zu Ende.
Iondai wußte es auf seine primitive, fraglose, praktische, nüchterne Weise. Er weiß es, wie wahrscheinlich alle Aerani es wissen; doch es war ihnen nie in den Sinn gekommen, es zu definieren, zu hinterfragen, zu analysieren – sie waren nicht zivilisiert genug, um so ausgeklügelte Methoden zum Verstehen ihrer eigenen Unbedeutendheit im Vergleich zum weiten All zu benötigen.
Der Nebel schloß sich dichter; er konnte sein Floß, sogar seine eigenen Hände nicht mehr sehen. Es war eine wundervolle Abgeschlossenheit, eine wundersame Stille. Es war, als dränge das Weiße direkt in seinen Schädel ein, wirble drinnen herum, Täler und Höhen hinab und hinauf, hier einen Gedanken, dort eine Erinnerung isolierend, Fakten vorschiebend, irrelevante Konklusionsketten abblockend.
Eine Welt, deren Zeit sich so fundamental von der normalen Zeit unterscheidet, daß das ching nicht mehr funktioniert, daß der menschliche Geist versinkt, verschwindet, sich aus seiner natürlichen Heimat in den Zellen und Bahnen des Gehirns zurückzieht. Eine oszillierende Zeitmauer, eine Welt also, wo in jedem Augenblick Vergangenheit und Gegenwart ein und dasselbe sind und in diesem Nach- und Vorhall des Augenblicks zusammengefaßt werden. Wer handelte, hatte bereits gehandelt und würde erst im nächsten Sekundenbruchteil
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