Erdwind
feststellte – doch ihr Leben auf dem Neu-Anzar war ihr jetzt fast ganz entfallen. Es kam in Fragmenten wieder hoch, und bei Gelegenheiten wie dieser, wenn die Erd-Sänger sie mit ihrem Lied verzauberten oder die melancholischen Beschwörungen des Wind-Sängers ihr das Gefühl der Stürme zurückbrachten, die den Anzar peitschten und seine ungeschützte Oberfläche so todgefährlich machten. Die Windsängerin sang heute nicht, wie Elspeth bemerkte. Die Frau saß geduckt auf halber Höhe der Brustwehr und starrte ins Feuer hinunter; gelegentlich sang sie ein paar Töne, doch die spürbare Spannung in der Gruppe dort unten beunruhigte sie anscheinend. Was beeindruckte sie so, fragte sich Elspeth. Was spürte sie im Wind? Oder war der Glaube an eine mystische Funktion dieser Sänger einfach Unsinn?
Die Windsängerin war die angesehenste unter allen Erdsängern. Iondai wählte sie aus und konnte sie nach Lust und Laune absetzen, doch seine Lust und Laune gründeten sich vielleicht auf das, was er selber im Winde gelesen hatte. Die anderen Sänger, ‚Fluß’ und ‚Baum’, wechselten von einem Fackel-Zyklus zum anderen, und jeder im crog konnte die Stellung eine Zeitlang innehaben. ‚Felsen-Lied’ aber war das höchste Privilegium für alle, die im crog lebten, und für alle Zeiten. Eine Form des Gebets, um den Erd-Geistern eine Gunst abzuzwingen – zweifellos hatte es in erster Linie Katharsis-Funktion.
Manchmal wurde das Gespräch am Feuer lebhaft, sogar heftig. Elspeth konnte nicht viel davon hören, was sie natürlich ärgerte, doch wagte sie nicht, ihren Platz am Rande des Feuerscheins zu verlassen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, worüber gesprochen wurde – falls die Ungenn sie immer noch als eine Art Dünenläuferin in der Probezeit betrachteten, flog sie bestimmt ohne weiteres hinaus, wenn sie von dem vorgeschriebenen Spiralenweg abwich.
Sie horchte angestrengt; soviel sie verstehen konnte, ging es in der Hauptsache darum, daß die Jenseitler ihre ‚Knochen-Geister’ nicht mehr, wie ursprünglich vorgesehen, einigen Auserwählten verleihen wollten. Die meisten waren davon überzeugt, daß ein solcher Besitz für den crog von großem Wert sein würde; doch waren sie nur deshalb so überzeugt, weil Iondai es ‚vorausgesehen’ hatte. Allerdings gab es Abweichler: Darren zum Beispiel setzte sich heftig dafür ein, daß man die Eingänge zum crog schließen sollte, wie damals, als die nue- Invasoren aus dem Schneeland herabgekommen waren. Darrens Vater war ebenfalls der Ansicht seines Sohnes, die Ungenn der Familien waren es jedoch nicht. Das bedeutete nichts Gutes, dazu brauchte sie kein Orakel.
Der liebliche Geruch gebratenen Fleisches – Schwarzflüglerfleisch – machte ihr den Mund wäßrig, obwohl sie das Zeug nicht ausstehen konnte. Sie hatte vorhin nur eine sehr kleine Portion bekommen, und die Hälfte davon hatte sie Moir gegeben. Sie dachte daran, wie sie zum erstenmal Schwarzflügler gegessen hatte; damals mußte sie jeden Tag gegen die Übelkeit ankämpfen, bis sie das Fleisch schließlich mit Darren zusammen essen konnte, ohne dabei vor Ekel Grimassen zu schneiden. Als sie damals wieder auf ihr Schiff gekommen war, war sie erstaunt gewesen, wie lange sie auf dem medizinischen Tisch hatte liegen müssen, um sich die Fremdsubstanzen aus dem Körper zu spülen. Schließlich hatte sie sich nicht mehr darum gekümmert. In dem, was die Aerani aßen, war nichts Giftiges – weder im Schwarzflüglerfleisch noch in den Felsenfuß-Schwämmen oder jenem ‚Lucinogen’ das in den porösen Steinen wuchs –‚Weißgummi’ nannten sie es wohl. Der menschliche Körper konnte das alles verarbeiten; bestimmt war es nahrhaft, ohne schädliche Nebenwirkungen zu haben.
Die Nacht schritt vor, und die Diskussion ging weiter. Nur zur Hälfte befand sich Elspeth im crog, zur anderen auf irgendwelchen Wolken-Ebenen, wo sie im Geiste Fragmente ihrer Gespräche mit Ashka, mit Gorstein und sogar mit Iondai verarbeitete. Hauptsächlich dachte sie an den Nachmittag zurück, an den erstickenden, stinkenden Nebel und an die sonderbaren, eindringlichen Reden Ashkas, bei denen es ihr kalt den Rücken hinuntergelaufen war.
Viel hatte sie davon nicht begriffen. Die Oszillation der Zeitmauer konnte sie sich zur Not bildmäßig vorstellen. Doch sie hatte sich die Zeit noch nie als Wellenfront vorgestellt, und so konnte sie nicht erfassen, daß sie nichts anderes sei als die Manifestation des Gleichgewichts zwischen
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