Erdwind
„… ich habe deine Frage formuliert.“
„Ja gewiß, ich bin bereit.“
„Das ist eine Insulare – keine direkte Frage, verstehst du?“
„Warum keine direkte Frage?“
„Es gibt hierbei keine direkte Frage, die du stellen kön n test. Doch wenn das ching helfen kann, dann wird es helfen, da ich dabei bin. Verstehst du?“
„Wie lautet die Insulare?“
„Was ist der Grund für mein Spannungsgefühl?“
Gorstein schloß die Augen und wiederholte im Geiste die Frage. Fast zehn Minuten lang saß er reglos und schweigend und wi e derholte immer wieder die Insulare, überdachte sie in allen ihren Aspekten und Möglichkeiten, auf jedes ve r borgene Faktum hin – Zukunft und Vergangenheit, innere und äußere Konsequenzen machte er sich deutlich … es war eine sehr ei n fache, sehr klare Frage; die Antwort würde ein Hinweis auf irgendein Konfliktgebiet sein, das aufgrund se i ner in der menschlichen Natur liege n den Veranlagung zum Vorgefühl, zum Spüren von Alternativen auf ihn ei n wirken könnte. Wenn Ashka den Strom der Möglic h keiten leitete, seine eigene Kraft einspannte, um Gorsteins unb e stimmtes, noch nicht voll gegenwärtiges Ahnen zu präzisi e ren und zu erweitern, könnte die Frage einen relevanten A b schnitt des ching- Textes hervorheben, der ihm eine Idee d a von geben würde, was da nicht stimmte.
Er öffnete die Augen. Der kleine Raum kam ihm dunkel und u n ruhig vor, die Wände schienen kleine Wellen zu schlagen, Fußboden und Decke vom Zentrum aus nach a u ßen wegzudri f ten; doch Ashka saß noch vor ihm, gelassen und lächelnd. Langsam gelangte der Körper des Schiffs-Meisters zu seinem vollko m mensten Gleichgewicht (yang und ying dachte er – alle meine Hormonspiegel verändern sich, der Parasympathikus schaltet sich knackend ein, der Sympathikus reagiert auf meinen unterbewu ß ten Befehl und schaltet sich ab, die Körpersysteme entspannen sich, der Muskeltonus stimmt, die Ströme fließen normal … Gleic h gewicht – letzten Endes kommt alles nur auf Gleichg e wicht an. Inneres, äußeres; auf den Wellen reiten, auf dem Strom der Zeit. Alles steht untereinander in Wechselbeziehung, überschneidet sich, verschränkt sich, M a terie und Zeit als Produkte der Struktur des großen tao, jeder Mensch ein fragmentarischer Nebeneffekt dieser gleichen Struktur …).
„Jetzt?“ fragte er, und der Rationalist trat hinter ihn, b e rührte seine Handgelenke und seinen Hals, prüfte die Spa n nung des Bindegewebes. „Nein. Schlechte Verteilung.“
„Aber ich fühle mich doch ganz entspannt“, protestierte Go r stein.
„Das reicht bei weitem nicht aus, Karl. Dein Körper ist depre s siv.“ Er suchte in seiner Leinentasche und brachte einen fest gerollten Streifen Tuch zum Vorschein. Beim A b rollen erglänzten auf dem grünen Stoff tausend winzige N a deln im Lichte der K a bine.
„Depressiv? Zuviel yin wahrscheinlich.“ Ein Eynismus.
„Wenn du es konservativ ausdrücken willst – gewiß. Wenn du lieber deine elektrischen Hautwerte wissen möc h test …“
„Nein, nein. Diesen ganzen Unsinn von Sudiom-Fluß und so … Zuviel yin, das reicht mir durchaus.“ Er sah zu, wie Ashka eine winzige Nadel auswählte, die fast unsichtbar gewesen wäre ohne das Glitzern ihres diamantenen Kopfes. Gorstein beugte sich vor und fühlte den winzigen Stich, als die Nadel in seine Haut drang. Konnte diese leichte psych i sche Depression wirklich der einzige Grund seines Unbeh a gens sein, dieser lästigen Neurose? Es wäre fast besch ä mend, wenn jetzt die physische Energie aufsteigen und sich neu verteilen würde, und er hätte auf einmal nicht mehr die geringsten Zweifel über seine Mission. Denn dann hätte er den Rationalisten wegen einer Sache bemüht, zu der er e i gentlich selbst imstande sein müßte. Wie unangenehm!
Von dem Punkt, an dem die Nadel das Fettgewebe durc h bohrt hatte, ging ein Gefühl des Fließens aus: Ashka drehte sein winziges Instrument; er hatte die Augen dabei geschlo s sen, seine Fi n ger glitten leicht über Gorsteins Haut, tastend, spürend, sich einfühlend. Dann ebbte die Spannung in Go r steins Magen und Gli e dern ab. Er hatte sich im Vergleich zu seinem früheren Zustand schon so entspannt gefühlt, daß er sich der noch vorhandenen Restspannung erst bewußt wu r de, als sie verging. Der Raum wurde wieder stabil. Er läche l te.
Ashka fühlte ihm nochmals die Pulse. „Ich wußte nicht, daß du Leberbeschwerden hast. Du solltest wirklich nicht
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