Erdwind
das magische G e fühl der Einheit und des Strömens nicht mehr vorhanden war.
Die steilen Wände der Höhle lebten noch, doch war zwe i fellos die Angst der Grund gewesen, daß sie unberührt geblieben w a ren, denn keine Spur menschlicher Arbeit war an ihnen zu en t decken. Hoch oben blickte das runde Loch zum grauen Himmel auf. Schlaffer Pflanzenwuchs übe r hing seinen Rand, stach hinauf (oder hinab?) in die Wo l ken, zu dem Dach, auf dem Ashka stand und mit allen se i nen Sinnen di e se seltsame Umgekehrtheit des Ganzen in sich aufnahm.
Hinter ihm, dem Mund des Orakels zugewandt, befand sich ein enger Tunnel, durch den zweifellos ständig der Wind fuhr, doch mußte der aufwärts gerichtete Luftstrom stark genug sein, um einen Menschen aus der Kluft und hoch in den Himmel zu tr a gen.
Es kam Ashka vor, als frische der kalte, starke Wind noch weiter auf. Wenn das mit der gleichen Plötzlichkeit der Fall war, mit der er abgeflaut hatte, dann war es sehr unklug, sich hier aufzuhalten. Er konnte sich nicht vorstellen, was hier, so hoch in den Bergen, für ein geophysikalischer Prozeß ablief, der dieses Phänomen hervorbrachte, doch er war durchaus geneigt, einen rationalen Grund dafür anzune h men. Er akzeptierte auch leichthin die ‚M a gie’ der Natur, die Unwahrscheinlichkeit des Atoms und die chemischen Rea k tionen der Lan d schaft, in die er kam. Es kam ihm nie in den Sinn, an blutrotem Regen zu zweifeln oder an den Steinspli t tern, die ihm vor die Füße flogen, als hätten sie sein Ko m men geahnt – es waren so viele elektromagnetische und chemische Kräfte am Werk, daß ihn gar nichts mehr übe r raschte. Ihn interessierten lediglich die Wechselwirkungen und der Strom des Lebens – mochten sie auf Schwerkraft, Elektromagnetismus oder irrationalen Urs a chen beruhen –, die das große tao bildeten: die kosmischen Kräfte des g e samten Universums. Lebendig und eisig wehte der Wind. Ashka blickte in den schwarzen Mund der tiefen Höhle, ließ sich vom Klang seiner dröhnenden Stimme erregen, der s o gar seine Gedanken ertränkte – wie in einer der Meereshö h len, wo das sanfte Rauschen des Ozeans hohl und schwi n gend wird, wenn es an die Wände eines Felsenloches trifft, den Stein küßt und ihn gleichzeitig erodiert, sich drö h nend in die Risse und Spalten drängt.
Seine Gedanken weilten für einen Augenblick beim Tode – wie traurig, daß dieses Leben fast vorbei war, wo es doch noch so viel zu lernen gab.
Ich bin ein verhallendes Echo im Universum …
Körperlich reagierte er so, daß er sich überrascht hoc h reckte. Es war ihm anzusehen, wie verwirrt er war; er ließ das Orakel nicht aus den Augen. Das Brausen des Windes, der ihn anwehte, beanspruchte seine volle geistige und kö r perliche Konzentration. Er hätte gegen die Bezauberung a n kämpfen können, doch vielleicht wäre es ihm nicht gelu n gen; so bewahrte er lieber seine Ruhe und ließ die fremda r tigen Gedanken in sich aufsteigen.
Ich bin ein verhallendes Echo im Universum.
(Schwärze – sein Geist schien abzurutschen, ein mer k würd i ges Gefühl, als löse er sich sekundenlang von seiner Hirnrinde … Formen und Gesichter wirbelten aus dem fi n steren Abgrund he r auf … Symbole und Klänge … irgend etwas drehte sich dazw i schen, blitzte für den Bruchteil einer Sekunde vor seinem geist i gen Auge auf, gerade so lange, daß er jene drei Doppe l spiralen erkennen konnte … dann waren sie wieder weg … irgend etwas spukte in seinem Kopf …)
Ich bin ein Kind der Zeit, aber es ist keine Zeit mehr da.
Der Spielplatz liegt hinter mir. Die Schaukeln sind noch da. Ich laufe weg vom Spielplatz. Ich kann nicht mehr u m kehren und wieder zurücklaufen. Vor mir ist Finsternis.
Ich bin der letzte schwache Ton einer Flöte. Ich bin das letzte Flackern einer Kerze. Ich bin ein Toter, der nicht zu seinem B e gräbnis will. Ich bin die Träne des Zornes, die auf einem zorn i gen Antlitz trocknet.
Nur noch Sekunden.
Nur Sekunden …
Sekunden …
Wind. Kälte. Schauern. Es schmerzt im Schädel, wenn die Zähne klappern. Iondai sagt: „Ashka …?“ Eine starke Hand packte se i nen Arm und zerrte. Er sah sich um. Der Aerani, selbst vor Kälte zitternd, zog ihn in den Schutz des kleinen Ganges. Stumm ließ Ashka es geschehen, ließ die Kälte hinter sich und duckte sich neben Iondai in den Gang, starrte auf die leblosen Felsen mit Augen, die nur Finsternis sahen.
Nur noch Sekunden … vor mir das Dunkel.
„Ich hatte
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