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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Holdstock
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machte es wie Iondai, benetzte Augen, Ohren und Lippen mit diesem Wa s ser, und dabei starrte er in den grundlos tiefen Rachen der Or a kelhöhle.
    Namen erfüllten seinen Kopf, aus der Vergangenheit au f tauche n de Namen: Lourdes, Wunschbrunnen, das Orakel von Delphi … die Höhlen und Löcher, aus denen die uralten Pr o phezeiungen vergessener Kulturen aufgestiegen waren, die Spalten und Risse im körnigen Fleisch der Mutter Erde, deren Angst- und Schme r zensschreie sich zu einer klaren und e r schreckenden Vision der Zukunft geläutert hatten – Tod, Sieg und Niederlage im Kriege, Gewinnen und Verli e ren von Fra u en, Söhnen, Töchtern. Hatten auch sie, diese dunklen Orakel und magischen Orte, den Atem der Welt ausgehaucht? Hatten sie laut mit eigenem Mund g e sprochen oder durch den Geist derer, die fragten? Hatten sie wirklich funktioniert – oder waren sie nur phantasievolle Erfindu n gen von Menschen, die vor dem Kommenden so viel Angst hatten, daß sie sich danach sehnten, ihr Schicksal im voraus zu wissen? Und hatten diese Menschen ihr Schicksal, wenn sie es erfahren hatten, auch auf sich genommen?
    Ashka hatte noch nie ein Erdorakel gesehen; er kannte dergle i chen nur aus Büchern und hatte sie immer für ein Stück jener glanzvollen Phantasien von Göttern, Hsien, Drachen, Mittelerde und allen jenen mythischen Wesen gehalten, deren üble Launen das Rumpeln und Feuer- oder Wasserspucken aus der verborg e nen Welt unter der Haut des Landes verursachten. Während er auf den Mund des Aeran starrte, fühlte er in se i nem Innern den Anhauch der Aeran-Kälte, ein sich Regen des Bewußtseins, das er noch nie g e fühlt hatte; ein ungesehenes, ungewußtes Wissen sammelte sich in ihm wie in einem Bren n punkt, reichte bis in den Kern seiner Seele, und er begann sich zu fragen, ob ‚Phant a sie’ nicht bloß ein grobes, durch nichts gerechtfertigtes Et i kett sei.
    Er hatte sein Leben in Einheit mit dem tao gelebt, hatte nach oben geblickt, hinaus in das gigantische Universum; jetzt b e griff er, wieviel er versäumt hatte, weil er nicht nach innen, nach unten geblickt hatte, zur Erde, auf den freundl i chen, weiblichen Schutz von Stein und Blut, Erde und Gebein …
    So nahe, so bewußt der Welt unter ihm – und doch so oberflächlich! Wie schnell der vergängliche Erdboden ve r gessen war in dem Streben, die Leere auszumessen!
    „Es ist gefährlich, hier zu stehen und nicht zu fragen“, sagte Iondai, und seine Stimme war wie ein Traum aus i r gendeiner U n wirklichkeit, der erst Bedeutung gewann, als die Worte klangen, widerhallten und schließlich Ashkas Ohr erreichten.
    „Gefährlich?“
    „Die Frage!“ sagte Iondai. „Du wirst das Orakel auch b e fragen müssen.“
    Ashka tauchte aus seiner Verzauberung auf und sah sich um. Er sah, was diese Kraft tatsächlich war, und zum e r stenmal nahm er auch deren unmittelbare Umgebung sowohl mit dem Verstand als auch mit den Sinnesorganen auf.
    Eine weite Höhle, deren hohe Decke längst eingestürzt war und jetzt in Stücken lag, ein Skelett aus glatten Stei n platten und scharfgezackten Streben. Das Wasser aus dem Gang floß zw i schen den Steinen dahin, schliff die unteren Kanten ab, rann durch das Labyrinth der zahlreichen Bruchstücke, rann darüber und darunter, verband den toten Stein mit dem lebe n digen Blut und Atem des Orakels. Auf vielen der glatten Steine waren Sy m bole grob und primitiv eingehauen, rauh, ohne Nachpolieren – schlängelnde, ve r wobene Linien, Spiralen, die in ihrer unfac h männischen Ausführung so häßlich waren, wie die drei Doppe l spiralen des Erdwind-Symbols in der Feuer-Halle in ihrer Konzentr a tion und Selbstbewußtheit schön w a ren.
    Da Intuition Ashkas größte Begabung war, brauchte er über die Grobschlächtigkeit der Symbole nicht einmal nac h zude n ken: Sie waren in der Frühzeit der neuen Gesellschaft entsta n den, die sich auf dem Aeran gebildet hatte. Die Künstler der ersten und vielleicht auch der zweiten Gener a tion hatten sich eifrigst bemüht, ihre Kunst Steinen einz u impfen, die nicht mehr vom lebendigen tao durchströmt w a ren. Die toten Felsbrocken hatten etwas M e lancholisches; sie waren Steine, die nicht mehr in den Boden bissen, nicht mehr diesen bizarren, schwingenden Widerhall der Energie in sich trugen, die über ihre Außenflächen strömte. Es war vielleicht als Auferstehung eines schreckenserfüllten R e spekts für diesen Teil der Welt gedacht, wo die Steine so anders waren, wo

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