Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel
Lächeln, das ihn auf seltsame Weise an Tristan erinnerte. Der Zorn wich aus seinen Zügen, doch er setzte sich wieder auf den nackten Boden und sagte: »Nein. Ich habe keine Zeit, nach Herun zu reiten.«
»Dann werdet Ihr - «
»Und wenn Ihr mich gefesselt in die Stadt der Kreise bringt, so werden die Händler bis zum Frühling die Geschichte über das ganze Reich verbreitet haben, und ich werde mich zuerst bei der Morgol beschweren und dann beim Erhabenen.«
Einen Herzschlag lang blieb sie stumm. Dann hob sie hochfahrend ihren Kopf.
»Ich gehöre zu den auserwählten Wächterinnen der Morgol, und ich habe eine Pflicht zu erfüllen. Ihr werdet kommen, so oder so.«
»Nein.«
»Lyra«, sagte Thod. Ein Unterton von Erheiterung lag in seiner Stimme. »Wir müssen den Berg Isig vor Einbruch des Winters erreichen. Wir haben keine Zeit, uns aufzuhalten.«
Achtungsvoll neigte sie den Kopf.
»Ich will Euch nicht aufhalten. Ich wollte Euch nicht einmal wecken. Aber die Morgol verlangt nach dem Fürsten von Hed.«
»Der Fürst von Hed verlangt nach dem Erhabenen.«
»Ich habe eine Pflicht - «
»Deine Pflicht schließt nicht aus, daß du Landherrschern mit Achtung begegnest.«
»Ob sie mir nun mit Achtung begegnet oder nicht«, bemerkte Morgon, »ich komme nicht mit. Warum laßt Ihr Euch überhaupt auf eine Diskussion mit ihr ein? Sagt es ihr. Auf Euch wird sie hören. Sie ist ein Kind, und wir können uns nicht durch Kinderspiele aufhalten lassen.«
Lyra betrachtete ihn gelassen.
»Keiner, der mich kennt, nennt mich so. Ich sagte, daß Ihr kommen würdet, so oder so. Die Morgol hat Fragen an Euch, die die Sterne in Eurem Gesicht und diese Harfe betreffen. Sie hat die Harfe schon früher gesehen. Ich hätte Euch das eher gesagt, aber ich geriet in Zorn, als Ihr diesen Stein warft.«
»Wo?« fragte Morgon. »Wo hat sie die Harfe gesehen?«
»Das wird sie Euch selbst sagen. Auch soll ich Euch ein Rätsel kundtun, sobald wir die Berge und das Sumpfland hinter uns haben und Kronstadt in Sicht ist. Sie sagt, daß in ihm Euer Name wohnt.«
Morgon stand auf. »Ich komme mit.«
Sie ritten von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang, während sie Lyra über eine wenig bereiste Paßstraße in den niedrigen, alten Bergen folgten, und schlugen am Abend jenseits der Bergkette ihr Lager auf. Morgon hockte in seinen Umhang gehüllt am Feuer und sah zu, wie der kühle, dunstige Atem des Sumpflandes zu ihnen heraufkroch. Thod, dessen Händen die Kälte offenbar nichts anhaben konnte, spielte eine liebliche Weise ohne Worte, die in Morgons Gedanken hineintanzte und ihn lockte, bis er nachgab und zuhörte.
Als das Lied endete, sagte er: »Was war das? Das war wunderschön.« Thod lächelte. »Ich habe dem Lied nie einen Namen gegeben.«
Einen Moment lang saß er schweigend da, dann griff er nach der Hülle seiner Harfe.
Lyra trat geräuschlos in den Lichtkreis des Feuers und bat: »Spielt weiter. Alle hören zu. Das war das Lied, das Ihr für die Morgol gemacht habt.«
Erstaunt blickte Morgon den Harfner an.
»Ja«, gab Thod zurück, während seine Finger leicht über die Saiten glitten und schon eine neue Melodie woben.
Lyra nahm Morgons Harfe von ihrer Schulter und stellte sie neben ihm nieder.
»Ich wollte sie Euch schon früher geben.« Sie setzte sich und hielt die Hände ans Feuer. Das Licht gab ihrem jungen Gesicht warme, runde Konturen; Morgon konnte den Blick nicht von ihr wenden.
»Ist es Eure Gewohnheit«, fragte er abrupt, »jenseits der Grenzen von Herun vorüberkommenden Landherrschern aufzulauern, um sie zu entführen?«
»Ich habe Euch nicht entführt«, gab sie unerschüttert zurück. »Ihr habt Euch selbst entschieden, mitzukommen. Im allgemeinen - «, fuhr sie fort, als er Luft holte, um zu widersprechen, »führe ich Händler durch das Sumpfland. Besucher aus anderen Ländern sind selten, und wenn sie kommen, dann sind sie manches Mal zu unwissend, um auf mich zu warten, und sie versinken in den Sümpfen oder sie laufen in die Irre. Außerdem beschütze ich die Morgol, wenn ihre Reisen sie über die Grenzen von Herun hinausführen, und ich erfülle alle Pflichten, die sie mir aufgibt. Ich bin geübt im Umgang mit dem Messer, mit Pfeil und Bogen und mit dem Speer; der letzte Mann, der mein Können unterschätzte, ist tot.«
»Ihr habt ihn getötet?«
»Er zwang mich dazu. Er wollte zwei Händler berauben, die unter meinem Schutz standen, und als ich ihn warnte, mißachtete er meine Warnung. Das war nicht
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