Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel
abends Rast. So müde waren sie, daß sie nur ein kleines Feuer entzündeten, als der Regen endlich versiegte. Sobald sie gegessen hatten, streckten sie sich in ihren feuchten Schlafsäcken aus. Morgon, der auf dem harten, steinigen Boden unruhig schlief, wachte immer wieder auf, um einen Stein unter sich wegzuschieben. Er träumte von einem endlos weiten, einsamen Land, auf das der Regen ohne Unterlaß herunterprasselte, und durch das Trommeln des Regens hindurch hörte er den Hufschlag von Pferden. Als er sich herumwälzte, spürte er unter sich den harten Druck eines Steins und öffnete die Augen. Im schwachen Schein der Feuerglut sah er ein Gesicht, das sich über Thod neigte, eine Speerspitze, die über seinem Herzen hing.
Erschreckt und geängstigt griff er nach einem Stein von der Größe seiner Faust, fuhr hoch und warf. Er hörte einen Aufprall und einen unterdrückten Schrei, und das Gesicht verschwand in der Dunkelheit. Thod fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf. Er setzte sich auf und sah Morgon an, doch noch ehe er sprechen konnte, traf ein Stein, der mit großer Zielsicherheit aus der Dunkelheit geflogen kam, den Arm, auf den Morgon sich stützte. Morgon fiel nieder.
Eine Stimme rief ärgerlich: »Müssen wir uns mit Steinen bewerfen wie Kinder?«
»Lyra!« sagte Thod.
Morgon hob den Kopf. Ein Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren trat zu ihnen ans Feuer, rührte in der Glut, bis Flammen aufloderten, und warf eine Handvoll Zweige hinein. Ihr schwerer, loser Umhang war von der Farbe des Feuers; ihr dunkles Haar war aus dem Gesicht gezogen und auf ihrem Scheitel in einem dicken Zopf zusammengerollt. Sie richtete sich auf, den einen Arm etwas steif, als schmerzte er sie. In der anderen Hand hielt sie einen leichten Speer aus Eschenholz und Silber.
Morgon setzte sich auf. Ihre Augen huschten zu seinem Gesicht, und der Speer richtete sich mit flinkem Schwung auf ihn.
»Wer seid Ihr?« fragte Morgon.
»Ich bin Lyraluthuin, die Tochter der Morgol von Herun. Ihr seid Morgon, der Fürst von Hed. Wir sind beauftragt, Euch zur Morgol zu bringen.«
»Mitten in der Nacht?« Dann fügte er hinzu: »Wir?«
Sie hob einen Arm, und aus der Dunkelheit traten andere junge Frauen in langen, leuchtenden Umhängen. In einem Ring umschlossen sie ihr Lager, und ihre Speerspitzen bildeten einen vielzackigen Kreis. Morgon rieb sich seinen Arm und betrachtete sie mit düsterer Miene. In plötzlicher, drängender Frage schoß sein Blick zu Thod.
Thod schüttelte den Kopf.
»Nein. Wenn dies eine Falle wäre, die Eriel uns gestellt hat, wäret Ihr längst tot.«
»Ich weiß nicht, wer Eriel ist«, bemerkte Lyra. Ihre Stimme, ohne Ärger jetzt, klang leicht und selbstsicher. »Und dies ist keine Falle. Es ist eine Bitte.«
»Ihr habt eine seltsame Art, Bitten vorzubringen«, stellte Morgon fest. »Gern würde ich die Morgol von Herun kennenlernen, und es wäre mir eine Ehre, aber ich wage nicht, mir jetzt die Zeit zu nehmen. Wir müssen den Berg Isig erreichen, ehe der erste Schnee fällt.«
»Ich verstehe. Möchtet Ihr in Kronstadt einreiten, wie es einem Herrscher gebührt, oder möchtet Ihr lieber quer über Eurem Sattel hängen wie ein Getreidesack?«
Morgon starrte sie verblüfft an.
»Was ist das für ein Willkommen? Wenn die Morgol je nach Hed käme, so würde sie nicht - «
»Mit Steinen empfangen werden? Ihr habt mich zuerst angegriffen.«
»Ihr standet mit einem Speer in der Hand vor Thod! Hätte ich erst fragen sollen, warum?«
»Ihr hättet wissen müssen, daß ich den Harfner des Erhabenen nicht anrühren würde. Bitte erhebt Euch und sattelt Euer
Pferd.«
Morgon legte sich zurück und verschränkte die Arme.
»Ich rühre mich nicht von der Stelle«, erklärte er fest. »Ich will jetzt weiterschlafen.«
»Es ist nicht mitten in der Nacht«, sagte Lyra ruhig. »Es ist beinahe Morgen.«
Mit einer flinken Bewegung stieß sie ihren Speer über ihn hinweg und schob ihn unter den Riemen seiner Harfe. Er fuhr hoch und wollte ihn fassen; die Speerspitze, an der die Harfe hing, schwang von ihm weg. Sie hielt den Speer senkrecht und ließ die Harfe an ihm hinunter auf ihren Arm gleiten.
»Die Morgol warnte mich vor dieser Harfe. Ihr hättet unsere Speere zerbrechen können, wenn Ihr Euren Kopf gebraucht hättet. Jetzt, wo Ihr schon aufgestanden seid, sattelt bitte Euer Pferd.«
Wütend blies Morgon die Wangen auf, dann sah er plötzlich in den klaren Augen, die ihn anblickten, ein unterdrücktes
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