Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel
sich auf und wandte sein Gesicht dem von Har zu. Einen Moment lang trafen sich ihre Augen in wortlosem Verständnis. Dann neigte Morgon wieder den Kopf. »Morgen will ich nach Isig gehen.«
»Ich bringe Euch bis Kyrth. Hugin kann mit uns reiten und Eure Harfe tragen. In Vestagestalt sollte es nicht länger als zwei Tage dauern.«
Morgon nickte.
»Gut. Ich danke Euch.« Er schwieg, blickte Har wieder in die Augen. Seine Hände bewegten sich ein wenig hilflos, als suchten sie nach einem Wort. »Ich danke Euch.«
Mit der Morgendämmerung brachen sie auf. Morgon und der Wolfskönig waren in Vestagestalt; Hugin ritt Har, die Harfe und einige Kleider, die Aia für Morgon eingepackt hatte, vor sich. Westwärts flogen sie durch den stillen Tag, über Ackerland, das unter einer tiefen Schneedecke schlief. Die Städte, deren Rauchfahnen in einen aschfahlen Himmel aufstiegen, mieden sie. Sie liefen bis tief in die Nacht hinein, durch mondbeschienene Wälder, hinauf in das felsige Vorgebirge, bis sie die Öse erreichten, die von Isig aus nordwärts floß. Dort rasteten sie, schliefen eine Weile, erhoben sich noch vor Tagesanbruch wieder, um weiter dem Lauf der Öse zu folgen, die sie durch das Vorgebirge in den Schatten des Berges Isig führte. Im Schatten des mächtigen, verschneiten Berges, dessen geheimnisvolle Tiefen unermeßliche Schätze an Mineralien, Erzen und kostbaren Edelsteinen bargen, liefen sie dahin. Die Handelsstadt Kyrth breitete sich zu ihren Füßen aus; die Öse zog sich auf ihrem langen Weg zum Meer in weiten Windungen durch die Stadt. Westlich von Kyrth ragten, an eine stürmische See erinnernd, weißglitzernde Felsspitzen und Hügel auf, und zwischen ihnen schlängelte sich die Paßstraße, die zum Erlenstern-Berg führte.
Kurz vor der Stadt hielten sie an. Morgon nahm seine eigene Gestalt wieder an, warf sich den schweren, mit Pelz gefütterten Umhang, den Hugin getragen hatte, um die Schultern, schulterte sein Bündel, hängte sich die Harfe um. Er blieb stehen, wartete darauf, daß die mächtige Vesta neben ihm noch einmal Hars Gestalt annähme, doch sie betrachtete ihn nur aus violetten Augen, in denen im verbleichenden Nachmittagslicht ein vertrautes Lächeln zu blitzen schien. Da legte er einen Arm um ihren Hals, drückte sein Gesicht flüchtig an das weiße, kalte Fell. Dann wandte er sich Hugin zu und umarmte ihn.
»Findet heraus, was Suth getötet hat«, sagte der Junge leise. »Und dann kehrt zurück. Kehrt zurück.«
»Ich werde zurückkehren.«
Er ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Er folgte dem Fluß in die Stadt Kyrth hinein, deren Hauptstraße selbst mitten im Winter dicht bevölkert war von Händlern, Fallenstellern, Handwerkern und Grubenarbeitern. Die Straße wand sich oberhalb der Stadt den Berg hinauf, ihre Schneedecke zerfurcht von „Wagenrädern. Mit dem Zwielicht wurde es still; die Bäume schienen miteinander zu verschmelzen. In der Ferne, manchmal verborgen hinter einem Vorsprung des Berges, sah Morgon die dunklen Mauern von Danan Isigs Haus, dessen rauhe, zackige Mauern aussahen, als wären sie von Wind und Wetter und ruheloser Erde geformt worden. Nach einer Weile bemerkte er aus dem Augenwinkel einen Mann, der ruhig wie ein Schatten neben ihm herschritt.
Unvermittelt blieb Morgon stehen. Der Mann war groß, sehnig und kräftig wie ein Baum. Sein Haar und sein Bart hoben sich graugolden vor dem weißen Pelz seiner Kapuze ab. Die Augen hatten die Farbe von Tannen.
»Ich will Euch nichts Böses«, sagte der Mann rasch. »Ich bin neugierig. Seid Ihr ein Harfner?«
Morgon zögerte. Die grünen Augen lagen freundlich und milde auf seinem Gesicht.
»Nein«, erwiderte er schließlich mit einer Stimme, die nach den langen Monaten einsamen Lebens unter den Tieren noch rauh war. »Ich bin auf Wanderschaft. Ich wollte Danan Isig bitten, mir Unterkunft für die Nacht zu gewähren, aber ich weiß nicht - steht sein Haus Fremden offen?«
»Im Winter ist jeder Reisende willkommen. Kommt Ihr aus Osterland?«
»Ja. Aus Yrye.«
»Dem Heim des Wolfskönigs. Ich bin selbst auf dem Weg nach Harte. Darf ich mit Euch gehen?«
Morgon nickte. Eine Weile schritten sie schweigend nebeneinander her, begleitet vom Knirschen des Schnees unter ihren Füßen.
Der Mann sog mit einem tiefen Atemzug die von Fichtenduft geschwängerte Luft ein.
»Ich bin Har einmal begegnet«, bemerkte er ruhig. »Er kam in der Gestalt eines Händlers, der Pelze und Bernstein verkaufte, nach Isig. Er
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