Erfuellung
Süße?«
Ich schloss die Augen. Polizeiinstinkt und Vaterinstinkt hatten zur Folge, dass ich Victor Reyes so gut wie nie etwas vormachen konnte. »Ja. Ich bin nur fast schon da. Ich erzähle dir dann, wie es war. Oh, und mein Boss will sich vielleicht verloben. Jedenfalls habe ich dir einiges zu berichten.«
»Ich muss morgen wahrscheinlich mal im Revier vorbeischauen, aber du kannst mich jederzeit auf dem Handy erreichen. Ich liebe dich.«
Plötzlich hatte ich Heimweh. So sehr ich New York und mein neues Leben liebte, so sehr vermisste ich auch meinen Vater. »Ich liebe dich auch, Daddy. Wir reden morgen miteinander.«
Ich legte auf und wollte auf meine Armbanduhr sehen. Ihre Abwesenheit rief mir die bevorstehende Konfrontation ins Gedächtnis. Ich war wütend auf meine Mutter wegen meiner Vergangenheit, machte mir aber größere Sorgen um die Zukunft. Wegen Nathan wachte sie nun schon seit so langer Zeit über mich, dass ich bezweifelte, dass sie sich überhaupt anders verhalten konnte.
»Hey.« Ich beugte mich vor, denn ich wollte etwas klären, das mich schon länger beschäftigte. »An dem Tag, als ich mit Mom und Megumi zum Crossfire Building zurückkehrte und Mom ausgeflippt ist … Haben Sie beide da Nathan gesehen?«
»Ja.«
»Er war doch schon einmal dort gewesen, und Gideon Cross hatte ihn sich vorgenommen. Warum sollte er zurückkehren?«
Er sah mich durch den Rückspiegel an. »Meine Vermutung? Um gesehen zu werden. Dadurch konnte er den Druck aufrechterhalten. Wahrscheinlich wollte er Ihnen Angst einjagen, hat aber stattdessen nur Mrs. Stanton gehörig erschreckt. In jedem Fall war er effektiv.«
»Und keiner hat es mir erzählt«, sagte ich leise. »Darüber komme ich nicht hinweg.«
»Er wollte, dass Sie sich fürchten, und niemand wollte ihm diese Genugtuung geben.«
Oh, so hatte ich es noch gar nicht gesehen.
»Allerdings bedaure ich«, fuhr er fort, »dass ich Cary nicht im Auge behalten habe. Ich habe mich verkalkuliert, und er musste den Preis dafür zahlen.«
Gideon hatte Nathans Überfall auf Cary ebenso wenig vorausgesehen. Und bei Gott, ich hatte deswegen auch mit Schuldgefühlen zu kämpfen – schließlich war Cary nur wegen seiner Freundschaft zu mir in Gefahr geraten.
Aber ich war wirklich gerührt, dass ich Clancy offenbar am Herzen lag. Ich konnte es an seiner barschen Stimme hören. Er hatte recht: Ich war nicht einfach nur ein Job für ihn. Er war ein guter Mann, der stets bei allem sein Bestes gab. Plötzlich stellte ich mir die Frage, wie viel Raum es dann noch für andere Dinge in seinem Leben gab?
»Haben Sie eigentlich eine Freundin, Clancy?«
»Ich bin verheiratet.«
Ich fühlte mich idiotisch, weil ich das nicht gewusst hatte. Wie war sie, die Frau, die mit einem so harten, ernsten Mann zusammenlebte? Einem Mann, der tagein, tagaus ein Jackett trug, um die Waffe zu verbergen, ohne die er nie aus dem Haus ging. Wurde er für sie weich, und war er zärtlich zu ihr? Versuchte er sie unter allen Umständen zu beschützen? Würde er für sie töten?
»Wie weit würden Sie gehen, um sie zu beschützen?«, fragte ich ihn.
Wir hielten an einer Ampel, und er wandte den Kopf, um mich anzusehen. »So weit wie nötig.«
9
»Was hast du jetzt an dem wieder auszusetzen?«, rief Megumi und beobachte, wie der fragliche Typ sich entfernte. »Er hatte sogar Grübchen.«
Ich verdrehte die Augen und schüttete einen Wodka Cranberry herunter. Im Primal, der vierten Station auf unserer Tour durch die Clubs, pulsierte die Atmosphäre. Die Menschen standen Schlange bis um den Block, um hineinzugelangen, und die schweren Gitarrenrhythmen machten dem Namen des Clubs alle Ehre. Die Musik hämmerte in primitiven, verführerischen Rhythmen durch den dunklen Raum. Die Einrichtung bestand aus einer eklektischen Mischung aus gebürstetem Metall und dunklem Holz. Das vielfarbige Licht schuf animalische Silhouetten.
Normalerweise hätte es übertrieben gewirkt, aber wie immer bei Gideons Projekten wurde die Grenze maßloser Dekadenz nur gestreift und nicht überschritten. Es herrschte eine Atmosphäre hedonistischer Unbekümmertheit, und sie wirkte sich auf verrückte Weise auf meine alkoholgeschwängerte Libido aus. Ich konnte nicht still sitzen, meine Füße tappten ruhelos gegen die Sprossen meines Barhockers.
Megumis Mitbewohnerin Lacey sah zur Decke hinauf und stöhnte. Ihr dunkelblondes Haar war zu einer lässig zerzausten Hochsteckfrisur frisiert, und ich bewunderte sie. »Warum
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