Erich Kastner
Junge eilig die Treppe hinauf, dann liefen sie durch einen kahlen Gang und suchten Zimmer 28.
Plötzlich rief eine Kinderstimme: »Konrad, Konrad!« Der Junge wandte sich um und sah ein rothaariges Mädchen näher kommen. Die Kleine hatte Zöpfe, und diese Zöpfe standen schräg vom Kopf weg, als seien sie auf Blumendraht geflochten,
»Babette!« rief er.
Und dann rannten beide aufeinander los und schüttelten sich die Hände.
»Wie kommst du in die Verkehrte Welt?« fragte Babette erstaunt.
»Wir sind nur auf der Durchreise hier«, erzählte Konrad. »Wir wollen nämlich nach der Südsee, weil ich darüber einen Aufsatz schreiben muß. Und nun suchen wir meinen Onkel. Den haben sie am Eingang weggeschleppt. Er sitzt im Anfängerkurs. Hast du einen Schimmer, was er dort soll?«
»Ach, du mein Schreck!« rief das Mädchen. »Das ist gewiß ein Mißverständnis. Dein Onkel ist doch ein netter Kerl?«
»Und ob!« erwiderte der Junge.
»Im Empfangsbüro haben sie bestimmt gedacht, du wolltest ihn zur Erziehung herbringen.« Babette war richtig ärgerlich. »Kommt, wir wollen ihn rausholen. Das geht ganz leicht. Ich bin nämlich Ministerialrätin für Erziehung und Unterricht.«
Sie nahm Konrad bei der Hand.
»Moment mal«, meinte das Pferd. »Was hat eure Verkehrte Welt eigentlich zu bedeuten? Ich bin zwar nicht auf den Kopf gefallen, aber klar ist mir das noch nicht.«
Babette blieb stehen.
»Das ist so«, sagte sie. »Es gibt bekanntlich nicht nur nette Eltern, sondern auch sehr böse. Ganz genau so, wie es nicht nur gute Kinder gibt, sondern auch furchtbar ungezogene.«
»Stimmt«, bemerkte Konrad und nickte.
»Wenn sich nun diese bösen Eltern gar nicht ändern wollen und wenn sie ihre Kinder zu Unrecht strafen oder gar quälen - denn das gibt’s auch -, so werden sie hier eingeliefert und erzogen. Das hilft in den meisten Fällen.«
Das Pferd kratzte sich mit dem Huf am Kopf und fragte, wie denn solche Eltern erzogen würden. Babette holte tief Atem und sagte: »Wir vergelten ihnen Gleiches mit Gleichem. Das ist zwar nicht hübsch, aber notwendig ist es. Da haben wir zum Beispiel Herrn Clemens Waffelbruch hier.«
»Das ist ja Onkel Ringelhuths Hauswirt!« rief Konrad. »Aber der war doch eben noch zu Hause. Das Pferd hat ihm vor höchstens einer Stunde einen Blumentopf auf den Kopf geworfen!« Das Pferd zog die Oberlippe zurück und lachte lautlos.
»Wir sind alle zu gleicher Zeit hier und zu Hause«, sagte Babette. »Dieser Waffelbruch nun hat einen Jungen, der heißt Arthur Waffelbruch. Und der wird von seinem Vater abends stundenlang auf den Balkon gesperrt, besonders dann, wenn es regnet. Und wißt ihr, warum? Bloß weil er schlecht rechnet. Und er gibt sich solche Mühe! Da steht Arthur dann auf dem Balkon und fürchtet sich und weint und friert und wird immer blässer und kränker. Und rechnen konnte er vor lauter Angst überhaupt nicht mehr.«
»Der Alte hat mir gleich nicht gefallen«, knurrte das Pferd. »Ich hätte ihm ruhig noch ein paar Blumentöpfe auf den Hut schmeißen sollen.«
»Und nun stellen wir hier den Vater auf den Balkon«, erzählte Babette. »Und der Wind muß heulen. Und das machen wir so lange, bis der Mann merkt, wie er den Jungen quält. Seid mal still!«
Sie schwiegen.
»Hört ihr nichts?« flüsterte Babette.
»Da weint und schimpft jemand. Es ist aber weit weg«, sagte Konrad.
»Das ist der alte Waffelbruch«, flüsterte Babette. »In zirka drei Tagen, denk ich, ist er reif. Dann verspricht er von selber, daß er den kleinen Arthur nicht mehr schinden will. Dann werden wir ihn als geheilt entlassen.«
»Aha, so ist das«, sagte das Pferd. »Und weswegen bist du denn hier?«
Babette wurde verlegen. Schließlich sagte sie: »Wegen meiner Mutter. Sie hat sich gar nicht mehr um mich gekümmert. Früh bekam ich, weil sie noch schlief, kein Frühstück. Mittags kriegte ich auch nichts zu essen, weil sie unterwegs war. Und abends, wenn ich schlafen ging, war sie noch nicht wieder zu Hause. Da schrieb ihr der Schularzt einen Brief. Aber den warf sie in den Ofen.«
»Und nun?«
»Nun wird sie hier in die Schule geschickt, und ich darf mich gar nicht um sie kümmern. Nur manchmal, da muß ich zu ihr ins Zimmer gehen und so tun, als ob ich sie gar nicht bemerke. Und wenn sie sagt, daß sie Hunger hat, muß ich tun, als ob ic h’s nicht höre, und wieder fortgehen und auf dem Korridor singen.« Babette hatte Tränen in den Augen. »Sie dauert mich so«, flüsterte das Kind. »Sie hat schon
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