Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück
leisem Singsang zum ersten Mal seine Ahnenreihe vor. Eine wichtige Aufgabe, die sie später wiederholen würde, bis das Kind selbst die Namenskette der Vorfahren aufsagen konnte, denn allein dadurch vermochte es sich als vollwertiges Mitglied der Sippe auszuweisen. »Leif, du bist der Sohn meines Eriks und Erik ist der Sohn des Thorvald und der hatte den Asvald zum Vater und Asvald war der Sohn des Ulf und der hatte den Ochsenthorir zum Vater.« Bei dem vertrauten Klang hatte der Kleine die Augen geschlossen und war eingeschlafen.
Thjodhild wandte sich an ihren Mann. »Wir sollten jetzt gleich den Ziehvater bestimmen.«
»Wen denn? Ich weiß keinen.«
Doch ein Lehrer musste gefunden werden. Bei vornehmen Familien war es sogar üblich, zumindest die herangewachsenen Erstgeborenen für einige Jahre zu tauschen. Erik zuckte die Achseln. Wie sollte er zwischen den benachbarten Großbauern wählen, wenn er sie gar nicht kannte? »Die Entscheidung überlasse ich dir.«
Da lächelte sie. »Ich weiß nur einen, dem ich später meinen Sohn anvertrauen möchte.« Fest sah Thjodhild zu dem Deutschen hinüber. »Komm in unsern Kreis!«
Gegen seinen Willen zögerte er. War es aus Scham wegen des verbotenen Gedankens vorhin? War es, weil die Ehre ihn, den Sklaven, erschreckte? Er wusste es nicht.
»Was ist?«, polterte Erik. »Mein bester Freund will mein Kind nicht hüten?« Die feierliche Zeremonie dauerte ihm offenbar schon zu lange, und außerdem war Leif von seiner lauten Stimme wieder aufgewacht und wimmerte. »Soll ich dich hertragen oder willst du meine Frau beleidigen?«
»Nein, Herr.« Nach einem Räuspern bekräftigte Tyrkir: »Nein, niemals will ich das.« Beweg dich, Dummkopf, befahl er sich, und halte die Feier nicht auf! Er humpelte zu der jungen Familie.
»Wurde auch Zeit«, knurrte der Rote.
Durch den schroffen Ton gereizt, blaffte Tyrkir zurück: »Warum drängst du mich, Herr? Schließlich habe ich das Recht, über solch eine Pflicht nachzudenken.«
»Schlaukopf …«
»Hört auf!«, warnte Thjodhild. »Wenn euch danach ist, könnt ihr später streiten.« Sie legte dem sommersprossigen Verwalter ihr Kind in den Arm. »Schwöre vor uns, den Eltern und den Großeltern, dass du Leif als Freund und Lehrer zur Seite stehen wirst!«
Tyrkir betrachtete den Jungen: Wie warm er sich anfühlt, wie zart seine Haut ist. Es gelang ihm, Thjodhilds Blick offen und ohne Scheu zu erwidern. »Der große Tyr ist mein Zeuge, ich werde Leif mit all meiner Kraft und meinem ganzen Wissen ein treuer Lehrer sein.«
Erik klatschte kurz in die Hände. »Na endlich. Das war geschafft.« Ohne Zögern ging er zu seinem Schwiegervater. »Mir klebt die Zunge vom vielen Reden.« Grund zum Feiern gäbe es doch genug!
Thorbjörn ließ sich nicht lange bitten. Ja, ein guter Schluck auf das Kind, ein zweiter auf die glückliche Heimkehr, ein dritter, damit morgen der Hausbau unter guten Vorzeichen beginnen konnte, und für den vierten und die nächsten Schlucke würden ihnen sicher neue Gründe einfallen.
Über die Schulter forderte Erik ungeduldig den Freund auf: »Nun komm! Oder soll ich dich tragen?«
Thorbjörg Schiffsbrust hielt Tyrkir zurück. »Geht ihr voraus!« Erst wollte sie sich seinen Fuß ansehen und erlaubte keinen Protest. »Als Ziehvater gehörst du jetzt zu meiner Familie.« Mit Kräutern und Salben versorgte sie den geschwollenen Knöchel, schlimm sei es nicht, meinte sie, noch ein wenig Schonung und bald könne Tyrkir wieder ohne Schmerzen auftreten. Sie überhäufte ihn mit immer neuen Ratschlägen, bis es selbst Thjodhild zu viel wurde und sie den Patienten aus ihrer Fürsorge befreite.
Nach vier Wochen standen die Außenmauern des Haupthauses, war das Dach mit Grassoden abgedichtet und im Innern der Ehrenplatz des Familienoberhauptes zwischen den beiden reich verzierten Stützbalken gezimmert.
Bei strahlendem Sommerwetter hatte sich Thjodhild mit zwei Mägden vom Habichtshof aufgemacht, um die Baustelle zu besuchen. Erik schloss sie lachend in die Arme. Von allen Seiten lief die Dienerschaft herbei und bereitete der Herrin einen herzlichen Empfang. Weil es ihr die Mutter aufgetragen hatte, erkundigte sie sich zunächst nach Tyrkirs Fuß.
Er sah sie an und versuchte, seine Beklommenheit nicht zu zeigen. »Sag Frau Schiffsbrust meinen Dank! Sie hat mich gerettet. Ohne ihre Heilmittel hätte ich sicher den Fuß verloren.«
»Spotte nicht!«, wies ihn Thjodhild heiter zurecht. »Auch wenn Mutter manchmal zu
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