Erik der Wikinger
Middalhofs Halle in der Nähe des Hohesitzes. Er war bewaffnet, und ein schwarzer Helm mit einem Rabenhaupt saß auf seinem Kopf. Denn obwohl er nichts davon sagte, fürchtete er nicht wenig, daß Saevuna mit dem Zweiten Gesicht gesprochen hatte – daß sich ihre Worte bewahrheiten würden und er und Erik sich, noch bevor der Tag vorüber war, erneut Auge in Auge gegenüberstehen würden. An seiner Seite saß Gudruda die Schöne; sie trug eine weiße Robe, hatte das Haar hochgesteckt, trug goldene Spangen um die Brust und goldene Ringe um die Arme. Niemals war sie schöner anzuschauen gewesen; aber ihr Gesicht war weißer als ihre Robe. Voller Abscheu musterte sie den an ihrer Seite sitzenden Schwarzzahn, der grobschlächtig wie ein Bär und häßlich wie ein Troll wirkte. Aber er betrachtete sie voller Sehnsucht und lachte über das ganze breite Gesicht, als er daran dachte, daß er sie endlich für sich allein hatte.
»Ah, wenn Erik doch nur kommen würde, treulos, wie er sein mag! Käme Erik doch nur!« dachte Gudruda, doch kein Erik kam, um sie zu retten. Die Gäste versammelten sich schnell, und schließlich rauschte auch Swanhild, gekleidet in einen purpurnen Mantel, mit ihrer ganzen Gesellschaft herein. Sie kam zum Hohesitz, auf dem Gudruda saß, kniete kurz vor ihr nieder und sah sie mit ihrem hübschen, spöttischen Gesicht und mit Haß in den blauen Augen an.
»Sei gegrüßt, Gudruda, meine Schwester!« sagte sie. »Als wir uns zuletzt gesehen haben, saß ich als Atlis Braut dort, wo du heute als Ospakars Braut sitzt. Damals hielt Erik Hellauge deine Hand, und du hättest es dir kaum vorstellen können, Ospakar zu heiraten. Nun ist Erik fern – so seltsam entwickeln sich die Dinge manchmal –, und Schwarzzahn, Hellauges Feind, hält deine zarte Hand.«
Gudruda erwiderte den Blick und wurde in ihrem Schmerz noch bleicher, entgegnete aber kein einziges Wort.
»Was? Kein Wort für mich, Schwester?« sagte Swanhild. »Und doch bist du durch mich zu dieser glücklichen Stunde gekommen. Durch mich bist du Erik losgeworden, und ich habe dich in die Arme des mächtigen Ospakar gegeben. Kein Wort des Dankes für diesen großen Dienst! Schäm dich, Gudruda! Schäm dich!«
Da sprach Gudruda: »Seltsame Geschichten erzählt man sich über dich und Erik, Groas Tochter! Ich bin mit Erik fertig, aber auch mit dir. Du hast dich gegen meinen Willen selbst hier eingeladen, und wenn es nach mir ginge, möchte ich dein Gesicht nie mehr sehen.«
»Möchtest du Eriks Gesicht sehen, Gudruda? Sag, möchtest du Eriks Gesicht sehen? Es ist schön, sage ich dir!«
Aber Gudruda antwortete nicht, und Swanhild trat lachend zurück.
Nun fing das Fest an, und die Männer wurden allmählich fröhlich. Aber Gudrudas Herz wurde immer schwerer, denn Saevunas Worte hallten in ihm wider. Ihre Augen waren düster, und sie schienen nichts zu sehen außer Eriks Gesicht, wie es ausgesehen hatte, als er seinerzeit an den Goldfuchs-Fällen zu ihr zurückgekehrt war und sie ihn für tot gehalten hatte. Oh, was war, wenn er sie noch liebte und ihr im Herzen treu geblieben war? Swanhild hatte sie verspottet! Was, wenn alles ihr Plan gewesen war? Hatte Swanhild nicht schon zuvor Pläne geschmiedet, und konnte ein Wolf dem Beutereißen oder eine Hexe der Hexerei entsagen? Nein, sie hatte Eriks Haar gesehen – von dem er geschworen hatte, niemand außer ihr dürfe es berühren! Vielleicht hatte man ihm ein Schlafmittel gegeben und ihm die Locke im Schlaf geraubt? Zu spät, daran zu denken! Welchen Nutzen hätte dieser Gedanke? Neben ihr saß Ospakar, und in einer kurzen Stunde würde sie die Seine sein. Ach, könnte sie ihn doch nur tot sehen – der Troll, der sie zur Schmach getrieben hatte, der Feind, den sie in ihrem Zorn und ihrer Eifersucht herbeigerufen hatte! Sie war nicht klug gewesen – sie war in Swanhilds Falle getappt, und nun kam Swanhild, um sie zu verspotten!
Das Fest ging weiter – ein Becher folgte dem anderen. Nun gossen sie den Brautbecher voll! Bevor ihr Herz zweihundertmal geschlagen hatte, würde sie Ospakars Frau sein!
Schwarzzahn nahm den Becher – sprach das Gelöbnis auf sie und nahm einen tiefen Schluck. Dann wandte er sich um und wollte sie küssen, doch Gudruda schreckte mit Grauen in den Augen vor ihm zurück, und alle Männer wunderten sich. Doch sie mußte aus dem Brautbecher trinken. Sie nahm ihn. Verschwommen sah sie die ihr zugewandten Gesichter, schwach hörte sie das Gemurmel von einhundert
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