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Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Ziel gekommen war, stimmte Moses einen Choral an, und alle sangen mit. Danach murmelte Moses ein paar Worte, die Ana nicht verstand, und sah sie dann lange an.
    »Willst du etwas sagen?«
    »Nein.«
    Moses nickte und begann, Erde auf den Sarg zu schaufeln. Alle anderen halfen ihm. Sie gruben mit den Händen oder mit Stöcken und flachen Steinen. Ana überkam das Gefühl großer Eile. Der Sarg sollte so schnell wie möglich bedeckt werden. Ana erinnerte sich an etwas, was sie Senhor Vaz hatte erzählen hören: Schwarze Menschen hatten es immer eilig, von Begräbnissen wegzukommen, da sie Angst hatten, böse Geister könnten den Sarg verlassen und sie verfolgen. Vielleicht war Isabel trotz allem auch für ihre Schwestern eine bösartige, eifersüchtige Mörderin? Ana legte ihre roten Blumen auf den zusammengeschaufelten Erdhügel. Dann sah sie, dass sie recht gehabt hatte. Alle außer Moses verließen fluchtartig das Grab. Einige von ihnen hüpften auf den Wegen hin und her, wie um die bösen Geister zu verwirren. Es sah so komisch aus, dass sie bei aller Trauer fast zu lachen begonnen hätte.
    Schließlich waren nur noch Moses und sie zurückgeblieben.
    »Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie.
    »Ich kehre zu den Minen zurück.«
    »Aber du könntest doch hierbleiben? Da ist noch das Geld, das ich nun nicht für eine Erpressung gebraucht habe.«
    Moses sah sie an.
    »Ich meine es ernst«, sagte sie. »Du kannst ein Haus bauen, dich um Isabels Kinder kümmern. Du musst nicht mehr in den Minen schuften.«
    Vielleicht glaubte er ihr? Das konnte sie nicht erkennen. Aber er lehnte trotzdem ab. »Ich kann dein Geld nicht annehmen.«
    »Warum nicht?«
    »Isabel hätte es nicht gewollt. Ihre Kinder haben es gut, so wie es ist.«
    »Du hast viele Jahre lang in dem Staub und Rauch der Minen gearbeitet. Es ist nicht gut, dort zu lange zu arbeiten.«
    »Es ist trotzdem so, dass ich in die Minen gehöre.«
    Aber es schwang doch ein Zweifel mit, das spürte sie.
    »Ich werde über das nachdenken, was du vorgeschlagen hast«, sagte er. »Ich werde morgen in dein Haus kommen, wenn ich fertig gedacht habe.«
    Er drehte sich um und eilte zwischen all den namenlosen Gräbern davon. Sie sah ihm nach, bis er bei den weißen Mausoleen angekommen war und aus dem Sichtfeld verschwand.
    Sie fuhr zurück in die Stadt und bat den Chauffeur, am Bordell zu halten. Aber dann überlegte sie es sich anders und wies ihn an, sie nach Hause zu fahren. Noch wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Isabels Tod und die Begegnung mit Moses hatten ihr Gefühl verstärkt, ganz und gar auf sich selbst und ihre eigenen Entschlüsse angewiesen zu sein.
    Sie nahm ein Bad und legte sich dann aufs Bett. Wieder und wieder ging sie die lange Reise durch, die sie in dieses Zimmer geführt hatte. Doch die Bilder in ihrem Kopf waren in seltsamer Unordnung zusammengefügt. Jetzt war es plötzlich Senhor Vaz, den sie in Alger geheiratet hatte und Lundmark war ihr im Bordell begegnet. Moses war ihr Rausschmeißer, und O’Neill, wie Pater Leopoldo gekleidet, ging in der schattigen Kathedrale umher.
    Sie verbrachte den Rest des Tages und den Abend im Grenzland zwischen Traum und Wachen. Sie zog den Morgenmantel an, als Julietta das Essen für sie hereintrug, rührte aber kaum etwas an. Dann und wann schlug sie ihr Tagebuch auf, las hier und da ein paar Sätze und griff nach dem Federhalter, um etwas hinzuzufügen, schrieb aber schließlich nichts. Sie zeichnete nur eine Karte von dem Fluss, der sich in ihr schlängelte, dem Fjäll, das weiß gekleidet war, und dem Haus, in dem ihr Vater immer die durchlässigen Spalten abgedichtet hatte, um die Familie auf die Kälte eines weiteren Winters vorzubereiten.
    Während der Nacht schlief sie, nachdem sie eine ungewöhnlich hohe Dosis des Chlorals genommen hatte. Immer wieder träumte sie, sie wäre wach. Jedenfalls glaubte sie das, als sie aufwachte.

71
     
    Als die Morgendämmerung kam, stand sie schon auf der Veranda. In ihr regte sich eine Erwartung, die sie vergeblich zu bekämpfen suchte. Das hatte sie nie so stark empfunden, wenn sie Lundmark erwartete, und noch weniger bei Senhor Vaz. Aber jetzt fühlte sie so.
    Moses kam nicht. Nachdem sie den ganzen Morgen vergeblich gewartet hatte, war sie sicher, dass er schon wieder zu den Minen aufgebrochen war. Er hatte nicht gemeint, was er gesagt hatte, als er davon sprach, in ihr Haus zu kommen. Aber er hatte sie auch nicht betrogen. Er war sicher gewesen, dass sie seinen

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