Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
Einsamkeit, die sie jetzt verspürte. Aber der schmutzige Engel hatte immer noch seine Flügel. Sie verabscheute all das Düstere, das sich ihr aufdrängte, all die Freudlosigkeit, die sich nicht abschütteln ließ. Und doch bin ich ein lächelnder Engel, dachte sie. Das Leben, das ich jetzt führe, wird mir immer fremd sein.
Als sie die Fotografie aus dem Atelier in Alger anschaute, kam ihr ein Gedanke, den sie sofort guthieß. Sie würde heute, während der ruhigen Stunden des Nachmittags, ihr letztes Gespräch im Bordell führen. So hätte sie Zeit, dem Fotografen Picard erneut einen Besuch abzustatten.
Aber sie beschloss auch, etwas zu tun, was bisher nur ein rasch vorbeiziehender Gedanke gewesen war. Jetzt war der Augenblick gekommen. Sie hatte nichts zu verlieren, wenn sie die Frauen auf eine Art überraschte, die keine von ihnen sich hätte träumen lassen.
Die Weißen, die in der Stadt wohnten, ließen sich von Picard fotografieren, wenn sie heirateten, Jubiläen feierten oder auf dem Totenbett lagen, um begraben oder in einer Zinkkiste zurück nach Portugal verschifft zu werden. Er fotografierte keine schwarzen Menschen. Aber Ana wusste, dass ihn das Entgelt, das sie ihm anbieten wollte, zu einer Ausnahme bewegen würde. Picard war ein geschickter Fotograf. Aber er war auch gierig.
Er fotografierte ein Neugeborenes, als Ana sein Atelier betrat. Das Kind schrie, und Picard, der höchst ungern widerspenstige Kinder aufnahm, hatte sich Watte in die Ohren gestopft. Deshalb hörte er nicht, wie sie ins Atelier kam und sich still auf einen Stuhl setzte. Die Mutter, die das Kind hielt, war sehr jung. Ana dachte, es hätte Berta sein können, mit Forsmans Kind auf dem Schoß. Die Mutter betrachtete das Baby ohne Freude. Wahrscheinlich war die junge weiße Frau ihrem Mann nicht ganz freiwillig auf den afrikanischen Kontinent gefolgt. Und jetzt hatte sie das Leben in diesem Reich der Angst bis zur Verzweiflung erschreckt.
Picard verschwand unter seinem schwarzen Tuch und fotografierte das schreiende Kind. Erst als er danach die Frau mit wenig freundlichen Worten bat, das Atelier zu verlassen, bemerkte er Ana.
Er nahm die Watte aus den Ohren und verbeugte sich. »Haben wir einen Termin?«, fragte er bekümmert. »In dem Fall hat mein Sekretär seine Aufgabe nicht erfüllt.«
»Wir haben keinen Termin«, antwortete Ana. »Vielmehr bin ich gekommen, um Sie zu bitten, einen Auftrag auszuführen. Sehr kurzfristig.«
»Wann?«
»In ein paar Stunden.«
»Hier?«
»Im Bordell.«
Picard stutzte.
»Ich werde mehr bezahlen, als Sie je für eine Aufnahme bekommen haben«, fuhr sie fort. »Für ein Gruppenbild. Mit mir und allen Prostituierten. Jedoch wird keine nackt sein. Dann möchte ich für jede Frau auf dem Foto eine Kopie kaufen, und die Kopien sollen morgen vor zehn Uhr bei mir abgegeben werden. Am liebsten schon heute Abend, selbstverständlich gegen einen Aufpreis.«
Ehe Picard antworten oder irgendwelche Einwände erheben konnte, hatte Ana eine Anzahl englischer Pfundnoten aus ihrer Handtasche genommen und vor ihn auf den Tisch gelegt.
»Ich möchte, dass das Bild um vier Uhr heute Nachmittag gemacht wird«, sagte Ana. »Bis dahin sind es drei Stunden.«
»Ich verspreche Ihnen, pünktlich zu sein.«
»Das weiß ich«, sagte Ana. »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen.«
Nach dem Besuch bei dem Fotografen bat Ana den Chauffeur, sie hinunter zur Strandpromenade zu fahren. Sie verließ das Auto und schlenderte eine Weile im Schatten unter den hohen Palmen entlang und schaute aufs Meer hinaus. Die kleinen Fischerboote mit ihren dreieckigen Segeln, die sie inzwischen so sehr liebte, waren auf dem Heimweg. Sie dachte, das sei eine der Erinnerungen, die sie immer mit sich tragen würde. Die Fischerboote, die über die Wellen flitzten oder bei Windstille träge in der Dünung schaukelten. Ebenso würde sie sich an die kleinen schwarzen Figuren erinnern, die am Ruder saßen oder die Netze einholten und ihren Fang säuberten.
Ich lebe in einer Welt, in der die Weißen ihre Kräfte dabei vergeuden, sich selbst und die Schwarzen zu betrügen, dachte sie. Sie glauben, die schwarzen Menschen hier würden ohne ihre Anwesenheit nicht zurechtkommen und ihr Leben sei weniger wert, weil sie glauben, dass Steine und Bäume Geister beherbergen. Aber die Schwarzen ihrerseits verstehen nicht, wie man einen Sohn Gottes so schlecht behandeln kann, dass man ihn an ein Kreuz nagelt. Sie wundern sich über die Weißen, die
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