Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
sie könne das Bullauge offen lassen, wenn sie es sorgfältig mit einem dünnen Baumwolltuch abdeckte. Er hatte an Land für sie ein passendes Stück Stoff gekauft.
Jetzt lag sie da in der Dunkelheit und hörte Zikaden, vereinzeltes Trommeln und vielleicht etwas, was Gesang oder der Ruf eines Nachtvogels war.
Die gestaute Wärme war so stickig, dass sie sich anzog und an Deck ging. Ein Matrose hielt Wache an der Gangway, die während der Nacht mit einem dicken Seil abgesperrt wurde. Sie ging zum Vorschiff und setzte sich auf eine Ankerwinde.
Auf dem Schiff leuchtete nur die Sturmlaterne an der Gangway. Unten am Hafen brannte ein Feuer. Ringsherum saßen Männer, deren Gesichter von den Flammen beleuchtet wurden. Sie schauderte. Warum, wusste sie nicht. Vielleicht aus Angst, vielleicht wegen der unverarbeiteten Trauer, die in ihr wuchs.
Sie blieb auf der Ankerwinde sitzen, bis sie einschlief. Sie erwachte vom Stich einer Mücke in ihre Hand. Sie schlug sie weg und dachte, gegen den Tod könne man ohnehin nichts ausrichten.
Am Tag darauf, dem letzten, den sie in Lourenço Marques verbringen würden, fragte sie Halvorsen nach dem Namen des Landes, in dem sie sich befanden.
»Portugiesisch Ostafrika«, antwortete er unsicher. »Wenn das nun der richtige Name eines afrikanischen Landes sein kann?«
Halvorsen schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht.
»Sklaverei«, sagte er. »Die Schwarzen sind Sklaven. Genau das. Ich glaube, ich habe noch nie so viele brutale Menschen gesehen wie hier. Und alle sind weiß, wie du und ich.«
Abermals schüttelte er den Kopf und verließ sie.
Sie hatte seinen Abscheu gesehen. Ein Ausdruck wie in den Augen der afrikanischen Träger. Wut, Unruhe, vielleicht sogar Hass.
21
An diesem Tag, dem letzten, kamen die schwedischen Missionare an Bord. Kapitän Svartman empfing sie kurz vor elf Uhr vormittags an der Gangway. Zwei Frauen in langen Röcken und mit weißen Safarihelmen und ein kleiner dicker Mann mit einem Klumpfuß kamen an Bord. Hanna blieb stehen und betrachtete die Fremden. Kapitän Svartman überreichte ihnen eine Tasche voller Post und lud sie anschließend in seine Kajüte ein.
Halvorsen hatte erzählt, dass ihre Missionsstation in Phalaborwa lag, einem kleinen Ort weit abseits der Küste. Wahrscheinlich waren sie mit dem Ochsenwagen mehr als eine Woche gereist, ehe sie Lourenço Marques erreichten.
»Kapitän Svartman hat ihnen wahrscheinlich ein Telegramm geschickt, als wir in Alger waren«, sagte Halvorsen. »Sie wussten also ungefähr, wann wir ankommen.«
Hanna hatte gewaschen und wollte die Wäsche an eine Leine hängen, die die Jungmänner für sie aufgespannt hatten. Plötzlich stand eine der Frauen vor ihr.
Die Frau war bleich, sehr mager. Sie hatte eine kleine Narbe am Nasenflügel. Ihre Augen waren matt, blau, und ihre Lippen dünn. Sie war vielleicht in den Vierzigern, vielleicht jünger.
Hanna fand, dass sie krank aussah.
Sie nannte ihren Namen: Agnes.
»Kapitän Svartman hat erzählt«, sagte sie. »Von Ihrem Mann, der kürzlich gestorben ist. Wollen Sie, dass wir zusammen beten?«
Hanna stand mit ein paar tropfenden Hemden in der Hand da. Meinte sie, sie sollten hier an Deck auf die Knie fallen? Sie schrak vor dem Gedanken zurück.
»Ich helfe Ihnen gern«, sagte Agnes.
Ihre Stimme war sanft. Ein Bootsmann in der Besatzung sprach denselben Dialekt. Er hieß Brodin und kam aus den värmländischen Wäldern. War es wirklich eine Värmländerin, die vor ihr stand?
Sie warf einen Blick auf die linke Hand der fremden Frau. Kein Ring. Also war sie unverheiratet. Und sie wollte helfen. Aber wie? Hanna wünschte sich ihren toten Mann zurück, das war alles auf dieser Welt. Aber er lag in einer Tiefe von 1935 Metern und würde niemals wiederkehren.
»Danke«, murmelte sie. »Aber ich brauche gerade jetzt keine Hilfe.«
Agnes betrachtete sie nachdenklich. Dann nickte sie nur und ergriff ihre Hand. »Ich werde für eine Linderung Ihrer großen Trauer beten«, sagte sie.
Hanna sah die Missionare mit der Posttasche das Schiff verlassen und in die Stadt eintauchen. Sie folgte ihnen mit dem Blick, bis auch der Mann mit dem Klumpfuß verschwunden war.
Plötzlich entstand in ihr eine heftige Sehnsucht danach, ihnen nachzulaufen, sich mit ihnen möglichst weit vom Meer zu entfernen. Aber es gab noch immer etwas Unsichtbares, das ihr den Landgang verwehrte. Sie war an Kapitän Svartmans Schiff gebunden.
Das Schiff ihres toten Mannes.
22
Was dann
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