Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
verbeugte er sich an der Treppe zum Obergeschoss. Obwohl es spät war, saßen die Prostituierten untätig auf ihren Stühlen herum, rauchten oder redeten mit leiser Stimme. Es war ein schlechter Abend, sah sie und dachte mit Unbehagen an das, was sich sonst hinter den geschlossenen Türen abzuspielen pflegte.
Hanna suchte mit dem Blick nach Felicia, ohne sie zu entdecken. Aber als sie sich mitten auf der Treppe befand, kam Felicia aus ihrem Zimmer, zusammen mit einem jüngeren Mann mit einem buschigen Bart und einem mächtigen Bauch. Der Anblick entsetzte Hanna. Sie eilte in ihr Zimmer und schloss die Tür. Aber ganz kurz hatten sich Felicias und ihre Blicke gekreuzt.
Als hätten sie eine wichtige Botschaft ausgetauscht.
Zugleich sah sie Carlos, den verkleideten Schimpansen, neben dem Klavier stehen, mit einer Zigarre in der Hand. Der Affe sah sich interessiert um. Er schien gerade in diesem Augenblick der lebendigste von allen zu sein, die sich hier aufhielten, in einem Freudenhaus.
28
Am nächsten Tag stand eine weiße Frau mit eigensinnigem Gesicht vor ihrer Tür. Sie hieß Ana Dolores, sprach keine andere Sprache als Portugiesisch, dazu beherrschte sie einzelne Wörter oder Sätze aus der lokalen Sprache: Shangana . Aber da sie langsam und deutlich sprach, konnte Hanna sie besser verstehen als Felicia und Senhor Vaz.
Nachdem Ana Dolores eingetroffen war, begriff Hanna allmählich, was Senhor Vaz gemeint hatte, als er sagte, alle Schwarzen würden lügen. Ana Dolores war der gleichen Ansicht, möglicherweise noch entschiedener als Senhor Vaz. Sie wurde zu Hannas Reiseleiterin in eine Welt hinein, die nur aus Lügen zu bestehen schien.
Ana Dolores war bestellt worden, weil Senhor Vaz weder Doktor Garibaldi noch den schwarzen Dienerinnen zutraute, Hanna ganz wiederherzustellen. Schon am Tag nach ihrem Gespräch mit Felicia hatte er sich in einer Rikscha die Hügel hinauf zum Krankenhaus Pombal tragen lassen. Er hatte mit Senhor Vasconselous gesprochen, der die umfangreiche Krankenhausverwaltung leitete, obwohl er stocktaub war und nur auf dem linken Auge sehen konnte. Viele Jahre lang hatte Vasconselous das O Paraiso jede dritte Woche besucht. Seiner Frau erzählte er von den langen und verzwickten Schachpartien, mit denen er und sein Freund Vaz sich beschäftigten. Sie brauchte nicht zu wissen, dass er nicht die leiseste Ahnung davon hatte, wie die Figuren auf dem gewürfelten Brett bewegt werden mussten. Die einzige Dame, von der er bei seinen Besuchen bedient werden wollte, war die schöne Belinda Bonita. Sie begann schon zu altern, aber gerade ihre Reife zog gewisse Kunden an, die sich nicht vorstellen konnten, mit einer der jüngeren Frauen zu schlafen.
Senhor Vaz berichtete Senhor Vasconselous, dass überraschend eine weiße Frau ins O Paraiso gekommen sei. Damit der taube Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs ihn verstand, schrieb er seine Worte in Großbuchstaben auf einen der gelben Blocks mit liniertem Papier, die immer vor dem alten Mann lagen.
Das Anliegen war einfach: Senhor Vaz brauchte eine vertrauenswürdige Krankenschwester, die bei ihm Dienst tun könnte, solange die weiße Frau Pflege brauchte. Er unterstrich, dass es eine ältere Frau sein sollte, die ausschließlich in ihrer Schwesterntracht auftrat. Er wollte nicht Gefahr laufen, dass die Kunden des O Paraiso glauben könnten, die erste weiße Hure sei in der Stadt eingetroffen. Eine Frau, die obendrein verschiedene spielerische und begehrenswerte Identitäten bieten konnte, wie zum Beispiel als Krankenschwester.
Oder vielleicht besser gesagt: die zweite weiße Prostituierte in der Stadt. Niemand, am wenigsten Senhor Vaz, wusste, ob es eine Legende war oder Wirklichkeit. Aber es gab diese Geschichte von einer weißen Frau: Sie lockte Kunden in einer der dunklen Gassen an, die von der beleuchteten rua Bagamoio abzweigten. Niemand wusste, woher sie gekommen war, niemand war eigentlich ganz sicher, ob sie wirklich existierte. Aber hin und wieder wankten halbnackte Männer aus den dunklen Gassen und erzählten von der schönen weißen Frau, deren Künste keine der schwarzen Frauen beherrschte.
Senhor Vaz hatte nie daran geglaubt. Er war, wie gesagt, davon überzeugt, dass die Lüge in der schwarzen Welt stärker war als die Wahrheit. Eingebettet in die Lüge waren auch Aberglaube und Furcht, Falschheit und Kriecherei. Seit dem ersten Tag, an dem er seinen Fuß auf den Kai von Lourenço Marques gesetzt hatte, war er überzeugt
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