Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
der Kathedrale ertönte Gesang. Kinder, dachte sie, ein Kinderchor. Der Gesang wurde von einer hallenden Stimme unterbrochen, dann wurden dieselben Töne wiederholt. Wahrscheinlich eine Chorprobe, dachte sie und trat auf Zehenspitzen in das Dunkel ein, unsicher, ob sie diesen Kirchenraum überhaupt betreten durfte. War es derselbe Gott, der hier angebetet wurde, wie in den Kirchen, die sie zuvor besucht hatte, in der Fjällwelt und in Sundsvall? Sie blieb stehen, während ihre Augen sich langsam an das Dunkel gewöhnten.
Dann sah sie den Chor. Weißgekleidete Kinder mit roten Schärpen um die Taille, Jungen und Mädchen, alle schwarz. Vor ihnen ein kleiner weißer Mann mit wilder Haarmähne, der seine Hände wie Flügel bewegte. Noch hatte niemand sie entdeckt. Sie stand da und lauschte. Nach ein paar Wiederholungen war der Dirigent zufrieden.
Die weißgekleideten Kinder sangen jetzt einen Choral. Es war so schön, dass es schmerzte. Mit Tränen in den Augen stand sie lauschend da und dachte, dass sie nie zuvor etwas so unbegreiflich Schönes gehört hatte. Die Kinder sangen scheinbar mühelos in verschiedenen Stimmlagen, die Komposition war rhythmisch und kraftvoll. Alle hielten den Blick auf die weichen Handbewegungen des kleinen Mannes gerichtet. Keines der Kinder schien Angst vor ihm zu haben.
Hier, in der unfertigen kleinen Kathedrale, gab es nichts von dem, was sie sonst erschreckte.
Niemand, dachte sie, belügt hier einen anderen. Hier gab es nichts außer der Wahrheit im Gesang, geführt von weißen Händen, die sich wie energische Flügel bewegten.
Plötzlich entdeckte sie, dass eins der Kinder, ein Mädchen, sie bemerkt und den Kontakt mit dem Dirigenten verloren hatte, obwohl sie weitersang und die Stimme hielt.
Es war, als sähe Hanna sich selbst in dem Mädchen, als hätte sie sich in dieses Kind verwandelt, mit dunkler Haut und großen braunen Augen.
Sie und das Mädchen sahen einander an, bis der Choral zu Ende war. Da entdeckte sie der Dirigent. Sie schrak zusammen und dachte wieder, es sei ihr vielleicht nicht gestattet, sich hier aufzuhalten. Aber er lächelte und nickte, sagte ein paar Worte, die sie nicht verstand, und fuhr dann fort, mit seinem Kinderchor zu üben.
Sie war versucht, sich in die Reihe der Kinder zu stellen. Ein Teil des Gesangs zu werden. Aber sie blieb im Schatten stehen, hingerissen von den Stimmen der Kinder.
Sie wünschte, sie hätte es gewagt teilzunehmen. Aber der Mut fehlte ihr.
Erst als die Probe beendet war, die Kinder verschwunden waren und der Dirigent seine Noten in eine abgegriffene Mappe schob, trat sie wieder hinaus in das grelle Sonnenlicht.
34
Judas stand noch da, wo sie ihn verlassen hatte.
»Warum stellst du dich nicht in den Schatten?«, fragte sie und verbarg nicht, dass sie verärgert war. Sein Verhalten verdarb ihr den Eindruck des Erlebten in der Kathedrale.
Er antwortete nicht, da er sie nicht verstanden hatte. Er wischte sich nur rasch den Schweiß aus der Stirn und ließ den Arm wieder an der Seite herabhängen.
Sie kehrte zum O Paraiso zurück, wo Senhor Vaz unruhig auf der Straße herumging. Er trug einen Schirm zum Schutz gegen die Sonne. Carlos war auf das Bordellschild geklettert und warf Splitter vom Steindach auf einen Hund. Als Senhor Vaz Hanna sah, begann er sofort, aufgeregte Worte auf den schwarzen Mann niederprasseln zu lassen. Sie verstand nicht alles, was er sagte, aber sie begriff, dass er gefürchtet hatte, etwas sei ihr zugestoßen.
Noch immer sagte der schwarze Mann nichts. Sie hatte das Gefühl, er sei unberührt von dem Wutausbruch, der ihm galt. Und als sie jetzt beobachtete, wie Senhor Vaz sich immer mehr aufregte, bemerkte sie etwas, was ihr nie zuvor aufgefallen war.
Judas fürchtete sich, aber Senhor Vaz fürchtete sich nicht weniger: Nicht nur der hünenhafte schwarze Mann befand sich in einer schwachen Position. Natürlich konnte er sich nicht erlauben, dem weißen Mann Widerworte zu geben. Das wäre strafbar, könnte dazu führen, dass er verhaftet oder geschlagen wurde. Aber auch wenn Senhor Vaz’ Furcht eine andere war, so war sie doch nicht weniger umfassend. Und war es nicht mit Ana Dolores genauso? Sie wütete gegen die schwarzen Dienerinnen oder Prostituierten, erteilte ihnen Befehle und war nie zufrieden, gönnte ihnen keinen Dank für ihre Dienste. Aber auch sie trug eine nie nachlassende Unruhe und Angst in sich.
Der Ausbruch endete so rasch, wie er begonnen hatte. Senhor Vaz verscheuchte Judas
Weitere Kostenlose Bücher