Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
mit einer Handbewegung, und der Hüne kauerte sich an die Hauswand. Dann bot Senhor Vaz Hanna seinen Arm und brachte sie in das kühlste Zimmer, das zum Meer ging.
Senhor Vaz setzte sich schwer auf einen Stuhl, griff sich ans Herz wie nach einer großen Anstrengung und warnte sie in umständlichen Worten vor langen Spaziergängen in der starken Hitze. Er erzählte von Freunden, die einen Hitzschlag erlitten hatten, besonders wenn sie sich an Orten aufgehalten hatten, wo die Sonne von weißem Stein oder vom Sand an den Stränden der Stadt reflektiert wurde. Aber vor allem warnte er sie davor, sich der Aufmerksamkeit der Schwarzen allzu sehr auszusetzen.
Sie verstand nicht, was er zu sagen versuchte.
»Sind die Blicke der Schwarzen gefährlich?«, fragte sie.
Senhor Vaz schüttelte irritiert den Kopf, als hätte die Anstrengung seine Geduld verbraucht.
»Eine weiße Frau sollte nicht allein spazieren gehen. Das ist einfach so.«
»Ich bin zur Kathedrale gegangen und habe den Gesang der schwarzen Kinder gehört.«
»Sie singen sehr schön. Sie haben eine besondere Fähigkeit, einander in Stimmen zu finden, ohne besonders viel zu üben. Aber die Spaziergänge weißer Damen sollten kurz sein. Und am besten nicht unternommen werden, wenn starke Hitze herrscht.«
Sie wollte mehr über die entfernte Gefahr wissen, der sie sich offenbar ausgesetzt hatte. Aber Senhor Vaz hob die Hand, vermochte es nicht, weitere Fragen zu beantworten. Er blieb auf dem Stuhl sitzen, den weißen Hut auf dem Schoß, den Spazierstock aus schwarzem Holz, das pau preto hieß, gegen ein Bein gelehnt. Er schien plötzlich in eine unbekannte Gedankenwelt einzutauchen.
Nach einer Weile stand Hanna auf und verließ das Zimmer. Da war er eingeschlafen, mit halb geöffnetem Mund, zuckenden Lidern und leichtem Schnarchen.
Als sie durch die Tür zur Straße hinaussah, war Judas verschwunden. Sie hätte gern gewusst, wo er wohnte, ob er verheiratet war, ob er Kinder hatte.
Aber vor allem hätte sie gern gewusst, was er dachte.
An diesem Abend aß sie noch einmal in ihrem Zimmer. Eine der schwarzen Dienerinnen, deren Namen sie nicht kannte, trug die Speisen auf. Auch sie bewegte sich lautlos, auf die gleiche Art wie Laurinda. Sie fragte sich, ob diese stillen Bewegungen auch etwas mit Angst zu tun hatten, einer Angst, die sie jetzt immer häufiger wahrnahm.
Sie verzehrte das Essen, gekochtes Gemüse, dessen Geschmack ihr fremd war, dazu eine Keule von einem gegrillten Hähnchen. Die Gewürze waren vielfältig, unbekannt. Aber sie wurde satt. Zum Essen trank sie Tee. Was davon übrigblieb, würde sie später trinken, wenn er abgekühlt war, am Abend und in der Nacht.
Das war der letzte Rat, den Lundmark ihr gegeben hatte, ehe er plötzlich krank wurde und starb: Niemals ungekochtes Wasser trinken, nie das Wasser roh trinken.
Sie hatte seinen Rat befolgt. Jetzt, nachdem sie nicht mehr blutete und nicht mehr das trug, was ihr Kind hätte werden sollen, bereitete der Bauch ihr keine Schwierigkeiten mehr.
Sie empfand nur noch eine große Einsamkeit und Leere.
35
Sie stellte das Tablett vor dem Zimmer auf den Boden und schob den Riegel vor die Tür. Sie zog alle Kleidungsstücke aus und legte sich nackt auf das Bett. Der Vorhang vor dem Fenster hing reglos herunter. Es hat etwas Sündiges, nackt im Bett zu liegen, dachte sie. Sündig, weil es hier keinen Mann gibt, der mich begehrt und den ich zu mir kommen lasse. Sie zog das Laken hoch, um ihren Körper zu bedecken, überlegte es sich dann aber anders. Hier verbarg sich niemand, der sie sehen konnte. Wenn es irgendwo einen Gott gab, der allsehend war, ohne selbst bemerkt zu werden, würde er es sicher einem Menschen erlauben, sich nackt hinzulegen, wenn die Wärme erstickend war.
An diesem Abend dachte sie lange an die Angst, die sie in Senhor Vaz’ Augen gesehen hatte. Nie hatte sie Angst bei ihrer Mutter oder ihrem Vater bemerkt. Die Obrigkeit gab es, aber sie musste nicht erschreckend sein, wenn man sich fügte. Hier war es anders. Hier hatten alle Angst, auch wenn die Weißen versuchten, ihre Angst unter einer Oberfläche von Ruhe und Beherrschung oder hinter genau kalkulierten Wutanfällen zu verbergen.
Sie dachte: Wo ist meine Angst? Fehlt sie mir, weil ich niemanden habe, vor dem ich mich fürchten müsste? Weil ich ganz allein bin?
Die Welt der Einsamkeit. Die würde sie nie zu ertragen lernen. Sie war als ein Mensch in Gemeinschaft mit anderen Menschen aufgewachsen. In dieser Welt
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