Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
würde sie nicht überleben.
Gerade an diesem Abend bereute sie, von der Lovisa geflüchtet zu sein. Wäre sie mit nach Australien gefahren, wäre das Gefühl des Unerträglichen vielleicht abgeklungen. Immerhin gab es an Bord eine Gemeinschaft, von der sie ein Teil war. Sie war wie ein Insekt, wild flatternd, eingesperrt in einem umgedrehten Glas.
Aber das Gefühl verflüchtigte sich. Sie wusste, dass sie getan hatte, was sie hatte tun müssen. Wäre sie weiter mit dem Schiff gefahren, hätte sie sich wohl schließlich über Bord geworfen. Lundmarks schattenhafte Anwesenheit hätte sie um den Verstand gebracht.
Sie war kurz davor einzuschlafen, noch immer nackt auf dem Bett, als sie hörte, wie es auf das Blechdach zu tropfen begann. Allmählich schwoll das Geräusch an, bis der tropische Regen herabdonnerte. Sie erhob sich und schob den Vorhang zur Seite. Durch den kräftigen Regen verschwanden die Mücken, sie konnte die kühlende Luft ins Zimmer strömen lassen.
Draußen herrschte Dunkelheit. Keine Feuer brannten. Der Regen übertönte alle anderen Geräusche. Vom Erdgeschoss her waren weder das Grammophon noch Stimmen zu hören.
Sie streckte die Hand aus und ließ den Regen auf die Haut prasseln.
Ich muss nach Hause, dachte sie. Ich halte es nicht aus, hier zu leben, umgeben von dieser Angst und einer Einsamkeit, die mich zu ersticken droht.
Sie blieb am Fenster stehen, bis der kurze, kräftige Regen aufhörte. Dann ließ sie den Vorhang fallen, kehrte zum Bett zurück und legte sich wieder hin, immer noch, ohne das Laken über sich zu ziehen.
Tags darauf und an vielen kommenden Tagen ging sie hinunter zum Hafen und hielt Ausschau, ob ein schwedisch beflaggtes Schiff am Kai angelegt hatte oder draußen auf Reede wartete. Stets hatte sie Judas in ihrer Gesellschaft, stumm ein paar Schritte hinter ihr wachend.
Oktober 1904. Sie wartet.
36
Der Klavierstimmer hieß José, wurde nie anders als Zé genannt und war der Bruder von Senhor Vaz. Diese Entdeckung machte sie erst, nachdem sie eine Weile im Haus gelebt hatte. Wie genau sie die beiden Männer auch studierte, sie konnte keine Ähnlichkeit entdecken. Aber Zé erklärte, es sei ganz sicher, dass sie dieselben Eltern hatten. Auch wenn sie bald begriff, dass Zé etwas schwach im Kopf war, fand sie keinen Grund, ihm zu misstrauen, gerade wenn es um diese Sache ging. Und warum sollte Senhor Vaz erlauben, dass er da Tag für Tag saß und das Klavier stimmte? Senhor Vaz kümmerte sich um seinen Bruder, da ihre Eltern nicht mehr am Leben waren.
Senhor Vaz liebte ihn.
Hanna konnte die rührende Fürsorge sehen, die er ihm erwies. Als einer der Kunden sich über das ständige Stimmen des Klaviers beklagte, wurde sie selbst Zeugin, wie Senhor Vaz den Kunden wegschickte und ihn nie mehr zurückkommen ließ. Zé hatte die Erlaubnis, das Klavier zu stimmen oder die Tasten zu putzen, so oft und so lange er wollte.
Aber es gab selbstverständlich Ausnahmen. Wenn besonders bedeutende Männer aus Südafrika zu Besuch kamen, Männer des Staates oder der Kirche, führte Vaz seinen Bruder behutsam in das Zimmer hinter der Küche, wo Zé sein Bett hatte. Von der schönen Belinda, die über alles, was im Bordell geschah, gut unterrichtet war, erfuhr Hanna, dass auch dort ein Klavier stand. Die Tasten waren noch da, aber die Metallsaiten des Instruments waren durchtrennt.
In diesem Zimmer saß Zé häufig und stimmte ein stummes Klavier.
Zé lebte in einer eigenen Welt. Er war ein paar Jahre älter als sein Bruder, sagte äußerst selten etwas, wenn er nicht angesprochen wurde, berührte die Tasten oder saß nur stumm über das Klavier gebeugt, als wartete er auf etwas, was nie eintreffen würde. Er war wie eine tickende Uhr, dachte sie, in der nichts geschah, was den gleichmäßigen Rhythmus unterbrach.
Aber ganz wahr war das nicht, das verstand sie, nachdem sie fast vier Monate in dem Bordell verbracht hatte. Sie war wie so oft hinunter zum Hafen spaziert, zusammen mit ihrem hünenhaften Begleiter, und hatte nach einem schwedisch beflaggten Schiff Ausschau gehalten. Aber auch an diesem Tag ohne Erfolg. Bei einem indischer Händler, der auch fotografische Apparate und Brillen verkaufte, hatte sie ein Fernglas erworben. Durch die vergrößernden Linsen konnte sie sich vergewissern, dass keins der Schiffe, die auf Reede lagen, eine schwedische Flagge trug. Jeden Tag, wenn sie zurückkehrte, war sie sowohl enttäuscht als auch erleichtert. Enttäuscht, weil sie
Weitere Kostenlose Bücher