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Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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möglich verlassen musste.
    Afrika erschreckte sie zu Tode. Die Menschen, die sie nicht verstand und die sie nicht verstanden.
    Sie musste verschwinden. Aber trotzdem vermochte sie nicht zu bereuen, Kapitän Svartmans Schiff verlassen zu haben. Damals war es das Richtige gewesen. Aber was war jetzt das Richtige?
    Sie hatte keine Antwort.
    Sie dachte: Der dunkle Fluss fließt immer noch in mir. Noch hat sich das Eis nicht daraufgelegt.

33
     
    Noch am selben Tag ging sie hinunter zum Hafen. Senhor Vaz, der nicht dulden wollte, dass sie sich allein in der Stadt bewegte, ließ ihr Judas als wachsamen Beschützer folgen. Er ging ein paar Schritte hinter ihr. Jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, blieb er stehen und schaute zu Boden. Er wagte es nicht, ihrem Blick zu begegnen.
    Wie soll er mich beschützen, dachte sie: Er hat ja nicht einmal den Mut, mir in die Augen zu sehen.
    Im Hafen lagen viele Schiffe am Kai. Andere warteten draußen auf Reede. Es herrschte Ebbe, große Teile der Einmündungen zu der Lagune, die den äußeren Teil des Hafens bildete, lagen trocken, Wracks ragten aus dem schwarzen Schlick. Sie hielt nach einem Schiff mit schwedischer Flagge Ausschau, konnte aber keins entdecken. Auch keine dänische oder finnische Flagge, die einzigen, die ihr vertraut waren. Die Schiffe auf Reede zeigten Flaggen, die sie nicht zuordnen konnte.
    Am Kai fand fieberhaftes Löschen und Beladen statt. Sie sah, wie ein Netz mit Elefantenzähnen hochgezogen und dann in einen Laderaum gesenkt wurde. Aus einem anderen Schiff wurden Klaviere und Autos gehoben. In einem der Netze, die auf den Kai hinabgelassen wurden, befanden sich elegante Sofas und Sessel.
    Die halbnackten Arbeiter trieften vor Schweiß, als sie mit ihrer Bürde über schwankende Gangways liefen. Und überall die weißen Männer mit ihren Tropenhelmen, die wie hungrige Raubtiere über ihre Sklaven wachten. Sie hielt es plötzlich nicht mehr aus, diese gequälten und quälenden Menschen zu sehen, und verließ das Hafengelände.
    Sie beschloss, einen Umweg zu machen. Mit dem hochgewachsenen Judas hinter sich empfand sie keine Angst.
    Mein fünfter Begleiter, dachte sie: Erst war Elin für mich da, dann Forsman, dann Berta, Lundmark und nun dieser schwarze Hüne, der mir nicht in die Augen zu sehen wagt.
    An diesem Nachmittag wanderte sie lange durch die Stadt. Zum ersten Mal meinte sie, alles ganz deutlich zu sehen. Bisher war die Stadt im starken Sonnenschein wie verschleiert gewesen. Diese Stadt, die sie nur ganz kurz und nur aus der Ferne hätte sehen sollen, während frisches Wasser und Nahrungsmittel geladen wurden und ehe Kapitän Svartman mit der Lovisa den langen Weg nach Australien angetreten hätte.
    Hier war sie an Land gegangen, und hier war sie bis heute geblieben. All die Dunkelheit, die sie erlebt hatte, war jetzt dabei, sich aufzulösen. Sie begann mit wachen Sinnen, diese fremde Welt zu sehen.
    Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass Sonntag war. Einer der ersten Tage im Oktober. Aber die Jahreszeiten hatten den Platz gewechselt. Jetzt warteten nicht Kälte und Winter. Vielmehr verkündete die immer stärkere Wärme, dass der lange Sommer in diesem Jahr früh angebrochen war. Darüber hatte sie Senhor Vaz mit einem seiner Bordellkunden sprechen hören. Die Sonne brannte, wie die Kälte brennen konnte, dachte sie. Aber vielleicht ist meine Haut gerade deshalb gegen die Hitze gefeit, weil ich an die Kälte gewöhnt bin?
    Sie war ans Ende einer Straße gelangt, die sich zu einer Hügelkuppe hin öffnete. Auf der Kuppe lag die nicht ganz fertig gebaute Kathedrale. Das grelle Sonnenlicht wurde von den weißen Steinwänden reflektiert. Sie musste die Lider zusammenkneifen, damit sich das Bild nicht wie eine Fata Morgana im Sonnendunst auflöste. Rings um sie her war alles öde, schien plötzlich verlassen. In der Nähe gab es keine Menschen. Da war nur der große schwarze Mann hinter ihr, immer regungslos, wenn sie sich umdrehte.
    Sie ging den Hügel hinauf. Die Türen der Kathedrale waren geöffnet. Sie stellte sich in den Schatten des Turms. Wie Baisers kamen ihr die weißen Steine vor. Oder wie eine Torte, die ich bei Forsman gesehen habe, als eins seiner Kinder Geburtstag hatte.
    Sie stand im Schatten und wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht ab. Judas blieb draußen im Sonnenschein. Sie versuchte ihn herbeizuwinken, damit auch er sich in den Schatten stellte. Aber er blieb draußen, mit schweißüberströmtem Gesicht.
    Aus dem dunklen Inneren

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