Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
einer Übermacht
58
Es war noch weit bis zur Morgendämmerung, als Ana, die meist Ana Branca genannt wurde, davon erwachte, dass eine Hand ihre Brust berührte. Einen Augenblick lang glaubte sie, Lundmark sei von den Toten zurückgekehrt. Doch als sie die Lampe angezündet hatte, sah sie, dass es Carlos war, der sie im Schlaf berührt hatte. Es war, als hätte er nach etwas gesucht, was in seinen Träumen verlorengegangen war. Er erwachte von ihrer heftigen Bewegung. Ob es Enttäuschung war oder nur das Gefühl von etwas Schändlichem, von einem Affen an der Brust berührt zu werden, hätte sie nicht sagen können. Aber sie stieß Carlos aus dem Bett, und er flüchtete sich in die Deckenlampe. Da saß er und betrachtete sie mit diesen Augen, in denen sie nie lesen konnte, ob er traurig oder belustigt war.
»Verdammter Affe«, rief sie. »Du berührst mich nie wieder.«
Dann löschte sie das Licht. Sie hörte, wie Carlos in der Lampe allmählich zur Ruhe kam. Sofort tat er ihr leid. Trotz allem stand Carlos ihr nahe, er war wie ein Hund, aber klüger und immer gleichbleibend zugewandt.
Sie dachte auch, es sei merkwürdig, dass der Bandwurm, den Carlos verschluckt hatte, anscheinend keinen Schaden angerichtet hatte. Vielleicht sind die Magensäfte eines Affen so ätzend, dass ein Wurm, der in einem Menschen heranwächst, im Gedärm eines Affen eingeht? Sie hatte Rumigo, der ihren Garten pflegte, gegen das Versprechen einer guten Bezahlung darum gebeten, in Carlos’ Exkrementen nach Spuren des Wurms zu suchen. Bisher hatte er nichts gefunden, aber sie war sicher, dass er gewissenhaft weitersuchen würde. Er wagte nicht, ungehorsam zu sein.
Hanna war Anas früherer Vorname. Ihren letzten Nachnamen, Vaz, hatte sie ebenfalls abgelegt. Sie hatte ihn an dem Tag verloren, an dem der Pfau verschwand.
Trotz der gestutzten Flügel hatte Judas ihn, wie er beschwor, über die Hausdächer davonfliegen sehen. Hanna wollte ihm nicht glauben und hatte ihm wütend mit Schlägen gedroht, wenn er nicht erzählte, was wirklich geschehen war. Hatte er den Vogel getötet und gegessen? Hatte er ihm die Federn ausgerupft, um sie als Schmuck für Damenhüte zu verkaufen? Aber Judas blieb hartnäckig. Der Vogel habe sich von der Straße erhoben und sei davongeflogen.
Erst als einer der Hafenwächter auf dem Heimweg von seiner Arbeit berichtete, er habe den Pfau übers Meer fliegen sehen, musste Hanna einsehen, dass es wirklich geschehen war. Sie befand sich in einer Welt, in der ein Vogel mit gestutzten Flügeln plötzlich seine Flugfähigkeit wiedererlangen konnte. Und in der Gespensterhunde ohne Beine nachts auf den Straßen entlangliefen und Bandwürmer im Bauch eines Menschen bis zu zehn Meter lang wurden.
Hanna dachte, der Flug des Pfaus sei ein Omen. Wollte sie das Unmögliche erreichen, musste sie das Unmögliche tun. Sie musste eine andere Frau werden.
Nur deshalb war sie jetzt Ana Branca. Eine einsame Frau, dachte sie. Der Respekt, der Hanna Vaz entgegengebracht wurde, schien sich zu verflüchtigen. Ihr Entschluss, Isabel beizustehen und die Anklage auf Totschlag an ihrem Mann Pedro niederzuschlagen, hatte Empörung darüber ausgelöst, dass sie gegen ihre vornehmste Pflicht in der Kolonie verstoßen hatte: weiß zu sein und um jeden Preis andere Weiße zu verteidigen.
Ana konnte nicht wieder einschlafen. Als die Morgendämmerung ihr Fenster erreichte, stand sie auf. Gerade an diesem Vormittag würde sie Anwalt Andrade treffen und mit ihm über Isabels Schicksal sprechen.
Ana konnte an kaum etwas anderes denken als an das Bild von Isabel in ihrer unterirdischen Zelle in der Festung. Nur ein winziges ebenerdiges Fenster ließ ein wenig Licht ein. Kein Gedanke daran, das Meer und die Stadt, die Palmen entlang der Strandpromenade und die Hügelketten zu erkennen. Isabel schlief auf einer Pritsche, auf der sich eine Decke und eine mit Gras gestopfte Matratze befanden. Es war entweder kalt oder so warm, dass die Feuchtigkeit von der Decke tropfte. Während der ersten Wochen in der Zelle hatte man Isabel an einem Fuß angekettet. Jetzt hatte Ana den Gefängniskommandanten Lima dazu gebracht, ihr wenigstens diese Fessel abzunehmen.
Auch an diesem Tag wollte Ana sie besuchen. Jedes Mal musste sie sich erniedrigen, indem sie Lima um Erlaubnis bat, der sie oft endlos auf seinen Entschluss warten ließ. Manchmal war er nicht einmal da oder gab jedenfalls vor, abwesend zu sein. Ana hatte Lebensmittel bei sich, denn nichts anderes
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