Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
keine Antwort ab, sondern verließ das Haus. Sie hörte das Auto draußen starten.
Unbemerkt war Carlos ins Zimmer gekommen und saß nun an seinem üblichen Platz, oben auf dem dunkelbraunen Schrank, der immer noch Senhor Vaz’ Kleidung enthielt.
Was versteht er?, dachte Ana. Nichts? Oder alles?
59
Ana ließ sich von einer Pferdedroschke hinunter ins Bordell fahren. Dort beauftragte sie Judas, sie in die Festung zu begleiten, als die schlimmste Mittagshitze vorüber war. Wie immer empfand sie eine gewisse Unruhe, als sie an den bewaffneten Wächtern vorbeiging. Vielleicht würden sich die Tore der Festung auch hinter ihr schließen? Judas trug den Korb mit Lebensmitteln für Isabel.
Plötzlich begann er zu sprechen, was sehr selten vorkam. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Warum hilft die Senhora dieser Frau, die ein Messer in ihren Mann gestochen hat?«
»Weil ich weiß, dass ich ebenso gehandelt hätte.«
»Er hätte sich nie mit einer schwarzen Frau einlassen sollen.«
»Ist es nicht das, was weiße Männer jeden Abend im Bordell machen?«
»Nicht auf die Weise, wie Pimenta es getan hat. Kinder bekommen und sie als die eigenen anerkennen. Das konnte nur so enden.«
Sie gingen im Schatten an den niedrigen Häusern entlang, wo indische Kaufleute an ihren nach fremden Kräutern duftenden Theken saßen.
Ana blieb stehen und sah Judas an. »Ich werde nicht aufgeben, bis ich Isabel aus dem Gefängnis befreit habe«, sagte sie. »Das kannst du allen erzählen, mit denen du sprichst.«
Der Gefängniskommandant Lima stand an der Treppe des Gebäudes, in dem die Waffen der Festung verwahrt wurden. Er schien gelangweilt und schaukelte auf den Fersen. An diesem Morgen winkte er sie durch, ohne etwas zu sagen. Judas reichte ihr den Korb und blieb regungslos da stehen, wo sie ihn verlassen hatte. Wie üblich erwartete er sie in der sengenden Sonne. Ana hörte, wie Lima mit einem der Soldaten sprach. Über mich, dachte sie. Ganz bestimmt verächtliche Worte über mich.
Isabel saß auf der schmalen Pritsche. Sie sagte nichts, sah Ana nicht einmal an, als sie in das Dunkel eintrat. Obwohl Isabel stank, setzte Ana sich neben sie und berührte ihre Hand, die sehr dünn und kalt war.
Nach langem Schweigen nahm Ana den leeren Korb vom letzten Besuch und verließ die Zelle. Solange Isabel aß, so lange gab es doch Hoffnung.
Zwei Tage später nahm Ana den Zug nach Johannesburg. Sie hatte diese Reise noch nie gemacht und dachte, sie hätte gern eine Begleitung gehabt. Aber es gab unter den weißen Menschen niemanden, dem sie vertraute; wenigstens nicht, wenn es diese ungewöhnliche Aufgabe betraf, die sie erfüllen wollte.
Eine Pferdedroschke brachte sie ins Zentrum der Stadt, wo Anwalt Pandre sein Büro unterhielt. Er war anwesend, was sie kaum zu hoffen gewagt hatte. Überdies hatte er Zeit, mit ihr zu sprechen, wenn auch nur kurz, ehe er sich bei Gericht einfinden musste.
Pandre war ein Mann mittleren Alters, westlich gekleidet, aber auf dem Tisch bemerkte Ana einen Turban. Von seinem Sekretär, der ebenfalls Inder war, wurde er mit Munshi angesprochen. Er bat sie Platz zu nehmen, und sie spürte, dass er sich neugierig fragte, warum eine weiße Frau den weiten Weg zu ihm nicht gescheut hatte. Er sprach nicht fließend, aber bedeutend besser Portugiesisch als sie. Als sie ihn fragte, ob er Shangana beherrsche, nickte er, ohne zu begründen, warum er sich die Sprache der Schwarzen angeeignet hatte.
Er hörte mit ernsten Augen zu, als sie von Isabel erzählte, die Pedro Pimenta erstochen hatte. »Ich brauche Rat«, schloss sie. »Ich brauche einen Anwalt, der die Portugiesen dazu bringt, sie freizulassen.«
Pandre betrachtete sie und nickte nachdenklich. »Warum?«, fragte er. »Warum will eine weiße Frau einer schwarzen Frau helfen, die sich zu einem Mord hat hinreißen lassen?«
»Weil ich es tun muss.«
»Sie sprechen nicht fließend Portugiesisch. Darf ich fragen, woher Sie kommen?«
»Aus Schweden.«
Pandre sann eine Weile über ihre Antwort nach. Dann verließ er das Zimmer und kam mit einem verbeulten Globus zurück. »Die Welt ist groß«, sagte er. »Wo liegt Ihr Land?«
Ana zeigte auf ihr Heimatland.
»Ich habe vom Nordlicht gehört«, sagte er. »Und davon, dass die Sonne im Sommerhalbjahr nicht untergeht.«
»Das stimmt.«
»Alle kommen von irgendwoher«, sagte Pandre. »Ich werde nicht fragen, aus welchem Grund Sie nach Afrika gereist sind. Aber erzählen Sie mir, was Sie in
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