Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
Ruhe.
    Aber gerade jetzt: diese Stille.
    Der Junge, vielleicht sechzehn Jahre alt, stand regungslos da, mitten in dem Gemälde gefangen. Hanna wollte zur Treppe gehen, die zur Veranda führte, als Pedro Pimenta aus der Tür trat. Er presste sich ein blutiges Taschentuch auf eine Wunde an der Stirn, die noch nicht aufgehört hatte zu bluten. Er kann nicht angeschossen sein, dachte Hanna. Ein Schuss in die Stirn hätte ihn getötet. Dann dachte sie an das Geräusch von zersplitterndem Glas und nahm an, die weinende Frau habe etwas nach ihm geworfen.
    Pimenta sah auf sein blutiges Taschentuch, dann erst bemerkte er seine Besucherin. Er wirkte müde, ohne die energische Freundlichkeit, mit der er sie bei ihrem ersten Besuch empfangen hatte. Die Wunde an der Stirn war ein tiefer Schnitt direkt über der linken Augenbraue.
    »Haben Sie gesehen, wohin sie gerannt sind?«, fragte er.
    »Wenn Sie die Frau und das Mädchen meinen – sie sind hinunter zu den Krokodilteichen gelaufen.«
    Besorgt schüttelte er den Kopf. »Ich muss sie finden«, sagte er. »Setzen Sie sich auf die Veranda, und warten Sie, bis ich wieder da bin. Es lässt sich alles erklären.«
    »Wo ist Ihre Frau? Wer ist der Junge?«
    Pimenta antwortete nicht. Er ließ das blutige Taschentuch fallen und eilte den Hang zu den Teichen hinunter.
    Hanna setzte sich in einen Korbstuhl. Der Junge blieb vor der Tür stehen. Sie nickte ihm zu, ohne dass er reagierte. Noch immer war es still. Schließlich stand sie auf und ging ins Haus. Auf dem Boden im Eingangsbereich, der mit Löwenfellen und Zebrahäuten bedeckt war, lag zersplittertes Glas. An einer der Wände hing ein Kudukopf mit langen, gewundenen Hörnern. Hanna versuchte sich vorzustellen, was geschehen war. Solange sie nicht wusste, wer die weiße Frau und die beiden Kinder waren, konnte sie den Handlungsablauf nur ahnen. Die Splitter glänzten verräterisch wie ausgestreute Glasperlen.
    In der Küche drängte sich die versammelte Dienerschaft, angstvoll, einander schützend. Hanna wollte fragen, was geschehen war, überlegte es sich aber anders. Pimentas Frau Isabel und die Kinder mussten sich irgendwo im Haus aufhalten. Hanna suchte sie im Erdgeschoss und ging dann die Treppe hinauf. In dem größten Schlafzimmer, wahrscheinlich dem von Pimenta und Isabel, fand sie die Mutter mit den beiden Kinder. Sie saßen auf dem Bett, dicht nebeneinander.
    »Bitte entschuldigen Sie«, sagte Hanna. »Aber ich wurde unruhig, als ich hörte, wie Glas zersplitterte und Pedro mit der blutenden Stirn das Haus verließ.«
    Isabel sah sie an, ohne zu antworten. Im Gegensatz zur Dienerschaft zeigte sie keine Furcht, aber sie war von einer Wut erfüllt, die Hanna noch nie bei einer Frau erlebt hatte.
    »Was ist geschehen?«, fragte sie.
    »Es ist besser, wenn Sie gehen«, erwiderte Isabel. »Ich möchte nicht, dass Sie hier sind, wenn das geschieht, was geschehen muss.«
    »Was muss geschehen?«
    »Ich werde ihn totschlagen.«
    Die Kinder schienen überhaupt nicht erstaunt, woraus Hanna schloss, dass sie Ähnliches schon früher von ihr gehört hatten.
    Hanna setzte sich vorsichtig neben Isabel und nahm ihre Hand. »Ich verstehe nicht, was geschieht. Wie können Sie in der Gegenwart Ihrer Kinder zu mir sagen, dass Sie Ihren Mann töten werden?«
    »Weil ich es tun werde.«
    »Aber warum?«
    Isabel wandte sich ihr zu. Offenbar war es für sie unfassbar, dass Hanna nicht verstand. Was ist es, was ich nicht sehe, dachte sie. Ich befinde mich mitten in einem Drama, und ich begreife nichts.
    Isabel stand plötzlich auf, strich den Rock energisch glatt, als würde sie mit den Handbewegungen Kraft sammeln. Die beiden Kinder sahen sie an.
    Isabel beugte sich über sie. »Bleibt hier«, sagte sie. »Ich komme zurück. Nichts wird euch geschehen.«
    Dann griff sie nach Hannas Arm und verließ das Zimmer.
    »Was geschieht jetzt?«, fragte Hanna.
    »Diese Frage haben Sie mir schon einmal gestellt. Ich weiß nicht genau, wie es weitergeht. Sie können bleiben oder gehen. Es spielt keine Rolle.«
    Sie waren die Treppe hinuntergekommen. Der Junge stand immer noch vor der Tür. Isabel lief an ihm vorbei, ohne ihn auch nur anzusehen. Sie mag ihn nicht, dachte Hanna. Eine Ahnung, noch unklar, aber vielleicht der Beginn eines Zusammenhangs, keimte in ihrem Bewusstsein.
    Isabel ließ sich auf der Veranda auf das Sofa sinken. Hanna zog einen Korbstuhl an die Wand und setzte sich vorsichtig. Der Junge rührte sich nicht. Hanna dachte, jetzt gehöre

Weitere Kostenlose Bücher