Erinnerungen der Nacht
nach der Ermordung deiner ganzen Familie und der Eroberung deines Zuhauses noch schlimmer gewesen sein.“
Er nickte, erinnerte sich, erfuhr alles erneut am eigenen Leib, als er es für sie noch einmal durchlebte. „Es geschah binnen eines Augenblicks. Meine erschrockene Lähmung wich Wut und einer Gier nach Rache, die mich an den Rand des Wahnsinns brachten. Es dauerte Wochen, aber ich scharte eine Armee um mich. Einige Männer waren Freunde meines Vaters. Bei den meisten handelte es sich um Ritter in den Diensten von Gareths Familie. Sie unterstützten mich aus Gründen der Ehre. Ich hatte Gareth und seine Gefolgsleute gerächt, daher halfen sie mir, meine Familie zu rächen.“
„Und?“
Er sah ihr in die Augen und wünschte sich, er müsste nicht fortfahren. Aber er fuhr fort. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er sich jetzt nicht mehr bremsen und ihr nicht alles erzählen können.
„Auf meinen Befehl hin gewährten sie keine Gnade, und ich auch nicht. Einige Rosbrooks entkamen der Klinge, aber die meisten starben durch sie. Bis nur eine übrig blieb. Eine jüngere Tochter, nicht älter als ich.“
Er sah, wie Rhiannon die Augen schloss und vermutete, dass ihr vor dem graute, was jetzt kommen musste. „Ihr Name war Rebecca, und sie hatte das Gesicht eines Engels. Aschblonde Locken, große blaue Augen. Sie war so unschuldig. Ich befahl, dass sie in den Kerker geworfen wurde.“
Sie atmete in einem Stoß aus.
„Warum bist du erleichtert, Rhiannon? Weil ich sie nicht auf der Stelle getötet habe? Für sie wäre es besser gewesen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich kenne dich, Roland. Sicher ist dir nach ein paar Tagen klar geworden, dass die Sünden ihres Vaters nicht ihre waren, und du hast sie freigelassen.“
„Freigelassen?“ Fast hätte er gelacht. „Nein, Rhiannon. Du kennst mich überhaupt nicht. Aber du hast recht. Mit der Zeit bedauerte ich, dass sie für das leiden musste, was ihr Vater getan hatte. Ich ließ sie aus dem Kerker holen und in ein Gemach im dritten Stock bringen. Ich wollte sie zu ihren Verwandten zurückbringen, doch sie hatte niemanden mehr. Natürlich verabscheute mich das Mädchen für das, was ich getan hatte, so wie ich ihre Familie für die Ermordung meiner verabscheute.“
„Was ist aus ihr geworden, Roland?“
Er nahm Rhiannons Hände von den Schultern, faltete sie in ihrem Schoß und bedeckte sie mit seinen. In ihrem Gesicht suchte er nach der Verachtung, die gewiss bald kommen würde. „Ich entschied, es wäre das Beste für sie, wenn ich sie heiraten würde. Wenn ich sie zu meiner Braut machte, im Schloss behielt und versuchte, das Unrecht wiedergutzumachen, das ihr angetan worden war, indem ich meinen Reichtum und meinen Namen mit ihr teilte.“
Rhiannon blinzelte. „Hast du … hast du sie geliebt?“
„Liebe ist ein Gefühl, zu dem ich nicht fähig bin, Rhiannon. Schon damals nicht. Und seither auch nicht. Empfindet ein Tier Liebe?“
Sie machte den Mund auf und biss sich auf die Lippen. „Was hat sie zu deinem Antrag gesagt?“
„Es war kein Antrag. Es war ein Befehl. Sie konnte mich heiraten oder für immer in den Kerker zurückkehren.“
Sie sah ihm unverwandt in die Augen. „Wofür hat sie sich entschieden?“
„Für keins von beidem. Sie hat sich vom Turm gestürzt.“
„Oh Gott.“ Rhiannon machte die Augen zu; er sah, wie Tränen unter den dichten Wimpern hervorquollen.
„So, jetzt weißt du es.“ Er ließ das Kinn auf die Brust sinken. Eine Sekunde später spürte er, wie sie ihm mit den Fingern durch das Haar strich. Ihn erstaunte, dass sie es überhaupt noch über sich brachte, ihn zu berühren. Dass sie es obendrein so zärtlich tat, entzog sich seinem Verständnis völlig.
Er hob den Kopf und sah ihr in die feuchten Augen. „Ich schwöre, ich wollte dir nicht wehtun, Rhiannon. Ich habe einfach die Beherrschung verloren. Ich habe meiner brutalen Seite, die mein wahres Ich ist, freien Lauf gelassen. Das bedaure ich mehr, als du dir je vorstellen kannst.“
„Ich weiß. Wie ich weiß, dass du den Tod dieses Mädchens bedauert hast und wahrscheinlich die Toten aller Kämpfe, die du seither bestehen musstest.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich wurde ein Söldner, ein gedungener Krieger. Ich ließ das Schloss in der Obhut von Verwaltern zurück. Ich konnte es nicht ertragen, dort zu bleiben, wo die Fehler meiner Vergangenheit mich auf Schritt und Tritt verfolgten.“
„Ah, aber jetzt veränderst du die Geschichte, Roland.
Weitere Kostenlose Bücher