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Erknntnisse eines etablierten Herrn

Erknntnisse eines etablierten Herrn

Titel: Erknntnisse eines etablierten Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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aber auch der Besucher ergrünte.
    Willst du dich jung fühlen, geh’ ins Altersheim!
    Der Glutring an Huberts Zigarre wanderte mundwärts.
    »Wenn nur das Drumherum ein anderes wäre! Das Heim ist an sich privat. Ich bin, glaube ich, die einzige kommunale Einlage. Nun, zu mehr reicht es eben nicht. Aber du zitterst mit den Nasenflügeln! Mir ging’s zu Anfang auch so. Jetzt rieche ich nichts mehr.« Überzeugt, daß Lukas’ Mimik auf den säuerlichen Geruch im Hause und nicht auf die Zigarre zurückzuführen sei, griff er nach seinem Mantel, der über einem Bügel des Hotels Europäischer Hof am Schrank hing. Wie einen Marschallstab hielt er den Bügel, setzte ein Militärgesicht auf und schnarrte: »Auch bessere Zeiten gesehen!« Lukas half ihm in den Mantel; sie verließen den Vorsarg. Draußen im Halbdunkel saßen noch die Frauen. Eine sagte etwas zu Hubert, der unverständlich zurückmurmelte, worauf eine andere schrill lachte.
    »Das war das Suppenhühnchen!« erläuterte er auf der Treppe. »Und die gelacht hat, das ist die Perlzwiebel. Der Korridor ersetzt ihnen das Küchenfenster, aus dem sie fast lebenslänglich hingen.« Auch in der ersten Etage mußten sie wieder an dem Dutzend Augen vorbei. Jetzt aber wurde da gesprochen und gekichert. Lukas wunderte sich, bis ihm die Ursache auffiel: zwischen den Hennen saß ein alter Gockel.
    »Das ist der andere«, sagte Hubert auf dem Treppenabsatz bei den Jagdtrophäen. »Wir sind zu zweit. Unter sechshundertfünfzig Frauen!« Er las in Lukas’ Miene und erläuterte: »Das bedeutet spürbare Aufbesserung des Taschengeldes in Form von Zigarren, Gebäck, Schnaps und so weiter. Ich besitze allein elf Paar Handschuhe, die mit Liebe und anderen Fehlern gestrickt sind.«
    »Und wie revanchierst du dich?«
    Genüßlich zog Hubert an seiner Zigarre.
    »Ich verteile Aphorismen an Schwerhörige. Aber nur gelegentlich, zu schwere Kost für die alten Köpfe.«
    Als sich die eigensinnige Tür hinter ihnen schloß, atmete auch Hubert auf.
    »Wie alt bist du jetzt?«
    Zur Antwort blieb Hubert stehen.
    »So alt, daß ich seit fünfzehn Jahren tot sein müßte.«
    »Ist das deine Überzeugung oder nur der Übergang zu einer Pointe?«
    Hubert winkte ab.
    »Die Industriegesellschaft ist kein Platz für alte Menschen.«
    Lukas nahm ihn am Arm; Hubert ließ sich führen, gern, aber ungern, er widersprach selbst dem Schweigen.
    »Du brauchst mich nicht zu gängeln wie eine Schwester! Auch wenn du denkst, ich hätte mich in Alterstrotz verrannt, oder wie immer du das Klischee nennen magst, nach dem du schweigst. Die ganze Welt ist ein einziges Klischee.«
    »Dann nimm an, ich hätte originell geschwiegen.«
    Hubert strahlte über die lange vermißte Reibfläche, und Lukas fuhr fort:
    »Wenn du mir eine hübsche Sentenz versprichst, frag ich dich auch, warum du meinst, du solltest schon seit fünfzehn Jahren tot sein, Du hast sie doch parat?«
    »Wie ich dich kenne, hast du sie doch parat?« Mit einer Drehbewegung nahm Hubert die Zigarre aus dem Mund. »Wir Alten leben zu lang. Damit machen wir uns unbeliebt. Der Mensch sollte spätestens mit sechzig sterben, rechnen die Jungen, zu Recht, wie sie meinen müssen. Sie haben den Schrecken noch am längsten vor sich. Staat und Versicherungen hoffen ähnliches. Deswegen sind die rückständigen Völker menschlicher als die sogenannten fortschrittlichen. Weil die Alten da ihren Platz haben und nicht von einer jugendgeilen Gesellschaft hinausgeplant werden. Was sind wir denn? Senile Homunculi von pharmazeutischen Gnaden, die als Farce christlicher Humanität und demokratischer Feigheit in der Isolation, in die man sie abschiebt, mühsam um den Tod ringen müssen. Weg mit uns, ohne Heuchelei! Die Altersheime sind die Konzentrationslager der Demokratie.«
    Lukas verstand ihn. Für den alten Menschen ist die biblische Ordnung noch durch keine bessere ersetzt. Der Patriarch will dabei sein, will gefragt, zumindest geehrt werden. Er ist der Standort. Wie es Hubert gewesen ist mit seinem Stammtisch. Wir wußten, wohin, wenn wir nicht wußten, wohin. Er war unser Trainer, Mentor, die bürgerliche Omnipotenz, eine Art Doktorvater. Die Generationen griffen noch ineinander wie die Zahnräder eines Getriebes. Es war eine menschlichere Zeit, Gewohnheitsmäßig widersprach Lukas.
    »Du irrst dich, aber wie immer mit Niveau. Ihr könnt hinaus, wann ihr wollt.«
    Mit großer Operngebärde winkte der alte Mann ab.
    »Wohin? Was erwartet uns draußen? Wer?

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