Erknntnisse eines etablierten Herrn
sah nicht hinauf, folgte nicht dem, was sie entwickelte, nahm nur hie und da ein Wort auf, einen Satz, und erfuhr um so deutlicher, was sie sagen wollte: Es geht um die Jugend, die Jugend will, die Jugend darf, die Jugend hat, die Jugend soll, die Jugend braucht, die Jugend fordert, die Jugend hat ein Recht auf ihre Jugend, denken Sie doch an Ihre eigene Jugend, deshalb müssen wir für die Jugend, denn die Zukunft gehört der Jugend! Und was hat Hubert gesagt vor kaum zwei Stunden? Sinnigerweise stand ihr der jugendbetonte Abschnitt ausgezeichnet zu Gesicht. Sie wirkte stimmig, drückte sich in eigenen Worten aus, durchsetzt mit rhetorischen Phrasen, die den Beifall bringen. Wenn sie Wendungen gebrauchte wie: Das war so, das ist so und das wird so bleiben! Oder: Das muß sich ändern, denn das kann sich ändern und das wird sich ändern! war Lukas versucht, mit dem Bierdeckel nach ihr zu werfen. Denn das war nicht Daniela, das ist nicht Daniela, und das wird nie Daniela sein!
Für ihn ist sie einfach nicht die Frau, um Rauch und Bierdunst mit Gemeinplätzen zu überlagern, sich mit Zwischenrufern auseinanderzusetzen, anpöbeln und auspfeifen zu lassen. Für den Wahlkampf gab es Unsensiblere, robusten Durchschnitt wie die Zuversichtslächler auf den Wahlplakaten, die wahrscheinlich doch die Richtigen wären für dieses Geschäft.
Nun glitt ihre Rede in die langsame, besinnliche Abteilung, in der die Akademiker im Saal angesprochen werden. Hier wirkte sie bisweilen gouvernantenhaft, was gewiß mit dem Thema Schulpolitik zusammenhing. Dieses Besserwissen von Berufs wegen vertrug sich mit ihrer Ausstrahlung noch weniger als die Gemeinplätze.
»Wenn wir einmal nachdenken«, sagte sie gerade in passender Pose (Daumen unterm Kinn, Zeige- und Mittelfinger zum Ohr weisend an die Wange gelegt, Ellbogen in die Hand gestützt), ließ den Vorschlag im Saal schweben, sah ihm nach und wiederholte: »Wenn wir einmal nachdenken...«
»Bravo!« rief einer. Lukas erschrak, als er merkte, daß er es gewesen war. Wähler sahen ihn an, verständnislos, grinsend, übereinstimmend. Ruhig drehte die Rednerin den Kopf nach dem Zwischenrufer, stutzte, verlor den Faden, da sie ihn erkannte, zeigte Freude, nur für ihn bemerkbar, fuhr fort, brachte den Gedanken schwungvoll zu Ende und erhielt herzlichen Applaus.
»Eine nette Frau!« lobte jemand. »Viel zu schad für den Job.«
Und jemand tadelte: »So gut, wie sie tun, daß sie’s meinen, sind sie alle nicht.«
Daseinsbejahend und im Aussehen ihren Jahren bei aller Selbstkritik um Jahre nachhinkend, sitzen sie zwei Stunden später im Grill seines Hotels, ohne Parteianhang, ohne Männchen, am kleinen Tisch, vorgebeugt, einander zulächelnd, nachdenklich, sagen, wie lange das her sei, obwohl beide nicht das Gefühl haben, als sei das lange her, daß sie so zusammensaßen. So hatten sie nie zusammengesessen. Aber das verwischt sich bei wohlwollender Erinnerung.
Wie sie sich freuen, haben sie einander gesagt, und wie schlank sie sich gegenseitig finden, haben sich umarmt, im Hinterzimmer neben dem Wirtshaussaal. Die Wirklichkeit bestätigte das Vertrautsein, das die erinnernde Phantasie sich inzwischen geschaffen hat. Es ist schön, aber schwierig für das Mitteilungsbedürfnis. Zu viel hat man sich zu sagen. Weil Daniela den ganzen Abend reden mußte, fängt er an, erzählt aus seinem Leben, seinem Beruf. Wenn sie dabei an ihr eigenes Arbeitspensum denkt, kann sie ihm zu seinen Sorgen nur gratulieren. Was sie natürlich nicht tut.
»Wie ist es jetzt in England?« fragt sie. »Ich war ja einige Jahre dort verheiratet. Unvorstellbar, wie weit weg das ist!«
»Ich war auch einige Jahre dort verheiratet«, sagt er, und sie merkt, daß seine Ehe nicht unvorstellbar weit weg ist, drängt aber nicht, läßt ihn erzählen, was er ihr erzählen will, von Doreen, von der Krankheit, bis er unvermittelt das Thema wechselt.
»Erzähl von deinem jetzigen Mann. Was macht er?«
Daniela versteht seine Frage nicht, sie ist nicht verheiratet. Der Name, ach so, sie hat ihren Mädchennamen wieder angenommen. Daß Frauen nicht weiter mit dem Namen ihrer geschiedenen Männer herumlaufen müssen, auch dafür setzt sie sich ein, für alles, was mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft zusammenhängt. Außerdem könnte kein Wähler den Namen ihres geschiedenen Mannes aussprechen.
»Ich kenne mich in eurer Politik ganz gut aus, ich bin ein ziemlich leidenschaftlicher Europäer, lese regelmäßig
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