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Erknntnisse eines etablierten Herrn

Erknntnisse eines etablierten Herrn

Titel: Erknntnisse eines etablierten Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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eines Jägers, der hier im Kreise seiner ausgestopften Heldentaten dem eigenen Halali entgegengedämmert war. Auf der zweiten Hälfte der Treppe wiederholte sich die Szenerie. Vom Vorplatz der ersten Etage starrte ihm ein Dutzend Augen entgegen, erloschene Augen aus wächsernen Gesichtern wie bei Madame Tussaud in London. Alte Frauen saßen da im Halbdunkel des Korridors nebeneinander, wortlos, hoffend, daß sich etwas begebe, daß vielleicht jemand komme, sie zu besuchen, saßen da, verfolgten mit aufgeschreckten Blicken den Mann, der heraufkam im Vollbesitz seiner Kräfte, starrten ihn an, als wollten sie sagen: Rede mit uns, wir warten ja nur darauf! Ihre hilflose Bereitschaft, dieses ohnmächtige Dabeiseinwollen, bedrückten ihn. Er war wieder jung, war Enkel, der sich auflehnen muß gegen die Alten, zu Alten. Ohne in die gesprächsbereiten Gesichter zu schauen, grüßte er und ging zu der offenen Tür einer Teeküche, wo er eine Schwester fand.
    »Zweiter Stock, Zimmer sechzehn«, gab sie Auskunft.
    Auch in dieser Etage lauerten Augen, saßen alte Frauen an der Wand nebeneinander, gesprächsbereit, einige in Decken gepackt, als warteten sie gemeinsam auf den Tod. Lukas drückte sich vorbei, mit schlechtem Gewissen, atmete kaum, wie er das als Bub getan hatte, wenn er zu einer Beerdigung mit mußte und den Tod nicht einatmen wollte, von dem er genau wußte, wie er roch. Hier jedenfalls roch er süßlich.
    Ein Zögern, dann klopfte er an, klopfte ein zweites und ein drittes Mal, und trat schließlich ein. Am Fenster, im altväterischen Lehnstuhl mit dicken Ohren wie im Eisenbahnabteil, saß ein schmaler, aber unverkennbarer Hubert, mit der zarten Schulterpartie des alten Mannes. Auf den Knien ein aufgeschlagenes Buch, die Hände auf den Seiten, die Augen geschlossen, friedlich, als sei das Rennen gelaufen. Doch es roch nach Rauch, nach jungem, noch warmem Zigarrenrauch.
    »Hubert! Hubert!«
    Zuerst bewegte sich der weiße Schnurrbart, dann öffneten sich die Augen, lebendige Augen, jedes mit dem Lichtfleck, den kein Maler vergessen darf.
    »Sie wünschen?«
    »Hubert!« Er wiederholte den Namen mit jenem Verwandtentonfall, als sagte er: Aber Großpapa, ich bin’s doch, dein Enkel!
    Da nahm Hubert die Hände aus dem Buch, klappte es zu, legte es weg, schickte eine abwertende Gebärde hinterdrein und stand auf, kleiner, als Lukas ihn in Erinnerung hatte, aber zäh und eigensinnig.
    »Was muß ich auch Caragiale lesen! Den rumänischen Satiriker, weißt du. Komm an meinen Bart!«
    Nach osteuropäischer Sitte umarmte er ihn, schob ihn mit einem sachlichen »So« wieder weg und suchte seine Zigarre.
    Lukas gab ihm die Streichhölzer vom Tisch. »Setz dich!«
    Hubert deutete ins Leere; der Aufgeforderte holte sich einen Thonetstuhl aus der Ecke, setzte sich ihm gegenüber und ließ sich betrachten, bis der Patriarch im eigenen Nebel verschwand.
    »Du siehst erwachsen aus mit deinen grauen Schläfen.«
    Auch Lukas sagte Sätze, die man sagt, bis man einander wiedergefunden hat. Hubert deutete auf die Zimmereinrichtung. »Nachlaßquerschnitt mit eigenen Büchern und eigener Wasche.«
    «Keine Frage, woher er komme, was er mache, wie er ihn gefunden habe. Er war da, das genügte, ein Partner zum Reden, Lukas ließ ihn reden, wie schon immer.
    »Du stimmst mich kulinarisch. Es ist, wie wenn der Karren mit den Hors d’œuvres kommt, man weiß nicht, wo man anfangen soll.« Mehrmals zog er an seiner Zigarre, um sie unter Dampf zu halten. — Bei ihm störte es Lukas nicht. — »Ja, fangen wir ganz hinten an: Wie ich überhaupt hier hergekommen bin. Das fällt in meine kommunalpolitische Epoche. Du weißt, die Stadt ist siebenhundert Jahre alt geworden. Nun, auf allerlei Umwegen bin ich dazu gekommen, die Festschrift zu verfassen. Damit wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben berühmt, wenn auch nur innerhalb des Rathauses, Diese Prominenz habe ich genützt und mir soziale Gerechtigkeit erzwungen. Als der Bürgermeister mein Schaffen lobte und mir höflichkeitshalber sagte, wenn ich mal Sorgen hätte oder einen Wunsch und so weiter, wurde nur meine Chance bewußt: Was tut ein schutzloser, weil denkender Mensch im Alter zwischen Pensionsberechtigten? hab ich ihn gefragt — Tableau! Das ist ein Freiplatz, mein Lieber, wie er dem Laudator dieser unerträglichen Verkehrsanlage, die sich immer noch Stadt nennen darf, rechtens zukommt.« Buchstäblich mit jedem Satz wurde Hubert jünger, gewann an Farbe
    und Formulierungskraft,

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