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Erknntnisse eines etablierten Herrn

Erknntnisse eines etablierten Herrn

Titel: Erknntnisse eines etablierten Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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seine Stadt. Je gehäufter Eindrücke auftreten, desto weniger bleibt haften — eine Binsenweisheit, die das Tempo von Sightseeingtouren bestimmt. Touristenmägen sind größer, auswärts verdaut man mehr. Unterschiede von Jahrtausenden werden in Sekunden geschluckt, ja sogar Veränderungen in der eigenen Vergangenheit. Ob der Fremdenführer sagt: ...und an diesen Ring ließen die Fürstbischöfe die Opfer schmieden! oder ob Lukas vor dem Schnellimbiß zu sich sagt: ...und hier hast du jeden Tag gegessen! — es macht wenig Unterschied.
    Das Lokal gegenüber seinem früheren Atelier war noch genauso schäbig. Weil an jedem Tisch jemand saß, setzte sich Lukas zu jemand mit schwachen Abweisimpulsen. Vor sich die Schnellessertheke, an der er Marie-Luise zum ersten Mal gesehen hatte, am Nebentisch den Ober, der sich dort unterhielt und die Gesten, mit denen sich Lukas als neuer Gast bemerkbar zu machen suchte, haarscharf übersah. Durch das trübe Fenster hinter sich konnte er hinaufschauen: drüben, fünf Stockwerke hoch, sein früheres Atelier. Nächtelang war Lilly bei ihm gewesen, hatte mit ihm über die Zukunft geredet, Kaffee gekocht, ihn bei Laune gehalten, damals, vor dem Plakatwettbewerb. Unvorstellbar! Und Marie-Luise hatte ihm ihre Zeichnungen gezeigt, mit dem wohlerzogenen Strich, und... Belustigende Haremsvergangenheit.
    Waren wir nicht alle so in dem Alter? Zwangsvollstrecker einer biochemischen Konstellation?
    Die Wartezeit mit Rückblicken zu füllen, erwies sich als nutzlos, Der Ober sah ihn nicht, hörte nichts.
    »Hat die Küche schon zu?«
    Kopfschütteln, ein freundlicher Blick.
    »Es gibt noch alles. Aber es kann dauern«, sagte der Mann am Tisch und verfolgte gelassen Lukas’ weitere Bemühungen um die Aufmerksamkeit des Obers, bis er schließlich fragte: »Sie sind nicht von hier?«
    »Nein.«
    »Dann muß ich Sie vor dem Hackbraten warnen und vor dem Gulasch vor allem!«
    »Danke schön.«
    »Der Wirt ist ein Ausbeuter! Er bereichert sich auf Kosten der Gesundheit seiner Gäste. Aber er ist kein Kapitalist, nur Pächter. Das macht es so schwierig.«
    Ober und Wirt wären dieselbe unhöfliche Person. Lukas haßte es, laut auf sich aufmerksam zu machen und sagte halblaut:
    »Hallo! Ich möchte gern was essen. Oder haben Sie’s nicht nötig?« Endlich das Gesicht von vorn.
    »Wenn’s Ihnen nicht paßt, geh’n Sie doch!«
    Lukas stand auf; der Mann am Tisch schüttelte den Kopf.
    »Und hier ess’ ich jeden Tag.«
    Nicht ganz wirklich. Das Hotel ist plötzlich nicht mehr Hotel, das Hotel ist Kosmetiksalon und Nightclub, Boulevardpremiere, Filmkulisse, Arbeitsessen mit Hostessen. Eine Welt in der Welt hat sich ausgebreitet, Relikt einer Welt, sündteuer, aber billig, mit Laufsteg in der Mitte des großen Saals: Haute Couture.
    Rappelvoll, Leute, die in der Zeitung stehen, wenn sie nichts geleistet haben, V.I.P., den V.S.O.P. im Glas. Es kommt immer Rauch, wenn die Münder sprechen. Parfümsmog, Stereoohrpflege.
    Ganz vorn sitzt Lilly.
    Am Mikrophon einer in Samt, mit eigener Weltsprache: Splendid, Royal, Grand-Chic, Glitzerjacquard, Troispiêce, Bajaderenstreifen zart-luxuriös, klassische Clubform, Vichy-Karos pastellduftig, karibische Tone seidig-fließend, pflegende Elégance, Piquégarnitur innen mit Crêpe de Chine verwöhnt, kapriziöser Seidentwill moos-maiskariert, Jabot-Effekt als modisches Outfit, modellige Kantenverarbeitung, Etui, flauschig-salopp, bezauberndes Décor, Ton in Ton, extravagant bei Kerzenlicht.
    Lukas sitzt irgendwo hinten und beobachtet: deutlicher, unbarmherziger, liebevoller. Da drüben steht Ingrid, die Exbraut, hat Funktion. Was war sie für ein liebes Mädchen gewesen, zur Hausfrau geboren, aber mit unstillbarem Hang zum Künstlerischen. So ist es eben Extravaganz geworden. Farben sind hier nicht mehr Farben, sind über sich selbst hinausgewachsene Tone, Gaumenscherze für das verwöhnte Auge: Hummer, Zimt, Sahara, Lachs, Kognak, Aubergine, Safran, ink, pink, lemon, Flamingo, Honig, Geranie, Nougat, Banane, Curry.
    Das macht durstig. Was viele trinken, das in den hohen grünen Gläsern, sei Tropicana à la maison, belehrt der Kellner. Überall Geschäftigkeit. Eine Art Dame, halsfern, pfirsich-korall, Accessoires reseda, dreht Lippenstift aus persianerverbrämter Hülse. Assoziation: erotisierter Pudelrüde. Die Lippen der Paradiesvögel auf dem Laufsteg stehen geschürzt wie bei zärtlichen Affen; Jet-Setter reden mic-mac.
    Nach seiner Rückkehr ins Hotel hatte

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