Erlebnisse eines Erdenbummlers
dein und deiner Fäuste, o Professor Lindenschmitt, wie du uns den Abdruck deiner Finger auf die jugendlichen Backen geschrieben hast, als wir, noch am Morgenbrote kauend, nach der Zehnuhrpause in deinen Zeichensaal traten. Nicht das Kauen freilich war es, das den alten Graubart genierte, aber das Türzuschlagen, das unleidliche Türzuschlagen. Ach und darauf gerade hatten wir es ja doch abgesehen trotz den harmlosen Gesichtern, mit denen die Anführer unserer Klasse in den Saal traten und hinter sich die Tür ins Schloß warfen.
Einmal, zweimal, dreimal hatte die Sache gut getan, dann aber roch der Fuchs den Braten, und er biß zu. Zur Verwunderung der wenigen, die schon im Raume waren, verfügte sich der Graubart schweigsam in das dem Saale vorgelagerte, dunkle Gängchen.
›Was wird nun werden?‹ dachte ich, der ich schon vor meinem Zeichenbrette saß. Gleich sollte ich es wissen.
Oskar Hauswald, der große Oskar, stand auf der Schwelle und rieb sich die Backe. »Da steht er im Dunkeln und alleweil kriegt alles eine Ohrfeige, was von der Wendeltreppe auf das Gängchen tritt. Ich hab' die meine schon.«
Nun aber die Freude von uns, die wir ungeprügelt durchgekommen waren, und das Vergnügen, die Grimassen zu beobachten, mit denen der eine und der andere unserer Mitschüler ihr Mißgeschick hinnahmen! Vom Ingrimmirten bis zum ausgelassen Heiteren herunter waren alle Sorten menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten an den Gottesebenbildern zu beobachten, vor allem dann, als Lindenschmitt ganze Arbeit gemacht und auch einem jeden von den Frühgekommenen seinen Denkzettel gegeben hatte.
Wenn man berücksichtigt, daß sich unter den Geohrfeigten einer befand, der eben als Sieger von den französischen Schlachtfeldern heimgekehrt war, so wird man Respekt haben müssen vor dem Autoritätsglauben, der an unserer Musterschule herrschte.
Ich bin späterhin des öfteren gefragt worden, ob keiner meiner Lehrer dazumal gemerkt habe, daß ein gewisses Erzählertalent in mir stecke. Leider war dies nicht der Fall. Meine deutschen Aufsätze waren mittelmäßig, von einem einzigen abgesehen, den ich in der Unterprima schrieb. Unser Lehrer, Professor Hernnes, war neugierig, was wir aus uns selber künftighin zu machengedächten, und gab uns als Aufsatzthema die Überschrift: »Mein künftiger Beruf.« Trotzdem ich damals noch nicht sicher entschlossen war, was ich eigentlich werden wollte, so vertiefte ich mich in die Vorstellung hinein, ich wäre Arzt, und schrieb, von der Idee bezaubert, ein begeistertes Essay über die erhabenen Vorzüge dieses vornehmen Standes. Der Aufsatz, den ich heute nicht noch einmal schreiben würde, trug mir am Schluß des Schuljahres den Preis im Deutschen ein und die Entlassung aus dem Konvikt. Mein Vater erhielt in den Herbstferien des Jahres 1872 einen Brief vom Rektor Erler, daß er sich für seinen Sohn um ein Logis in der Stadt umsehen möge, zum geistlichen Stande schiene derselbe doch weder Lust noch Anlagen zu haben.
War der preisgekrönte Aufsatz allein die Ursache meiner brüskierten Entlassung? Ich glaube nicht. Beim Religionslehrer Kempf hatten wir neben der Kirchengeschichte das Studium der christlichen Apologetik begonnen. Mit wahrer Begeisterung wühlte ich mich in die Streitigkeiten der alten Kirchenväter hinein und in ihre dogmatischen Spitzfindigkeiten, und ich schrieb darüber lange und gelehrte Abhandlungen, die Herr Kempf zu korrigieren hatte. Noch sehe ich den spitzen Mund dieses Herrn und seine durchbohrenden Augen, wenn er mir die Arbeiten zurückgab, und noch klingen seine sauersüßen Worte mir im Ohr: »Sehr fleißig, sehr gelehrt – – aber, aber! – –«
O, ich wußt' es wohl zu deuten, dieses »aber – aber.« Was Cäsar einst sagte, das meinte heute HerrKempf: »Der magere Cassius denkt zu viel.« Bei den nahen Beziehungen des Religionslehrers zur Leitung des Konviktes ist es mir mehr als bloß wahrscheinlich, daß der Brief an meinen Vater zum Teil wenigstens auf die Einflüsterungen meines Religionslehrers zurückzuführen war.
Wie dem auch sei, am Anfang des Wintersemesters 1872-1873 stand ich auf dem Pflaster und suchte nach einer Bude bei braven, ordentlichen Bürgersleuten. Der Jesuitenpater von Doß wies mich an eine Familie im Gartenfeld. Fünf Tage wohnte ich unter dem Dache eines gottgefälligen, friedlichen Ehepaares wie in einem stillen Eden. Am sechsten – es war ein Samstag – da prügelten sie einander in der Betrunkenheit und wären des
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